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Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
Autoren: Gernot Gricksch
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die braunen Turnschuhe, die mir schon seit vielen Jahren zuverlässig sowohl im Alltagsleben als auch auf meinen Joggingrunden dienten, sowie das quietschgelbe T-Shirt mit Homer Simpson drauf. Wo war das Problem?
    »So kannst du doch nicht zum Interview gehen«, fand Susann.
    »Das ist bloß ein Radiointerview«, antwortete ich. »Ich könnte nackt vorm Mikro sitzen, mit einer rosa Schleife im Haar und einem Nasenring in den Nüstern. Die Hörer würden trotzdem denken, ich hätte einen Boss-Anzug an, wenn ich nur gestelzt genug rede.«
    Susann seufzte. Das konnte sie gut. Seufzen. Es war dieses ganz spezielle weibliche Seufzen, das gestandene Männer zu hilflosen dummen Jungs degradierte. Zu instinktlosen Dumpfbacken, die stets zielsicher die falschen Entscheidungen trafen. Und das Schlimmste an diesem Seufzen war, dass meine Süße oft auch noch recht damit hatte. Was ich natürlich nur sehr selten, und wenn, dann äußerst widerwillig zugab.
    Tatsächlich war ich nicht so cool, wie ich tat. Ich war ziemlich aufgeregt. Es war schließlich mein erstes Interview. Zumindest das erste, in dem ich die Fragen beantworten würde, anstatt sie zu stellen.
    Vor drei Wochen war mein erster Roman erschienen. Jahrelang hatte ich davon geträumt, ein Buch zu schreiben, während ich als freier Journalist Richtfeste, Theaterpremieren und Pressekonferenzen besuchte. Ein rundes Dutzend Anläufe hatte ich genommen, hatte stundenlang jeden Tag am Computer über dem richtigen Einstieg, den interessantesten Charakteren und dem originellsten Plot geschwitzt, war aber stets nach ein paar Seiten steckengeblieben und musste mir eingestehen, dass das, was ich da zu fabulieren begonnen hatte, ein literarischer Rohrkrepierer zu werden versprach.
    Dann starb mein Freund Bernhard, und ehe ich mich versah, befand ich mich auf einer emotionalen Achterbahnfahrt. Mein ganzes bisheriges Leben raste an mir vorbei, und mir wurde schwindelig, als ich zu begreifen begann, aus wie vielen Abzweigungen so ein Leben besteht, aus wie vielen verhängnisvollen oder selig machenden Entscheidungen, Zufällen, Wendungen und Untiefen. Schlagartig wurde mir klar: Ich brauchte kein ausgetüfteltes fiktives Werk zu verfassen. Die Geschichte meines Buches lag vor mir. Ich schrieb einfach auf, was mir widerfahren war. Mein Leben. Und das meiner Freunde. Das ging dann plötzlich ganz einfach, und nach wenigen Monaten lagen dreihundertachtzig Seiten Manuskript vor mir. Zu meiner großen Überraschung und Freude fand ich einen Verlag für Kirschkerne. Das ist der Titel des Buches: Kirschkerne.
    Als ich das Paket öffnete, in dem die ersten dreißig Exemplare meines Buches lagen, war das ein erhebendes Gefühl. Schön sahen die Bücher aus. Viel schöner als andere. Andächtig nahm ich ein Exemplar in die Hand und strich sanft über das Cover. Susann stand neben mir und lächelte. Das kann sie auch ganz toll: lächeln. Sie wusste, wie viel mir dieses Buch bedeutete. Ich hatte es geschafft. Ich war ein Schriftsteller.
    Bedauerlicherweise interessierte das außer mir, Susann, meiner Familie und meinen Freunden so gut wie niemanden. Das Literarische Quartett plante jedenfalls keine Sondersendung über mein Werk. Es thronte auch nicht in mannshohen Stapeln bei Thalia, Hugendubel und der Mayerschen Buchhandlung, noch warf es imposante Schatten über die neuen Werke von John Grisham, Henning Mankell und Stephen King. Tatsächlich konnte ich froh sein, wenn Kirschkerne es überhaupt auf den Neuheitentisch der Buchläden schaffte und nicht gleich ins Regal geschoben wurde, wo es vor allem dazu diente, unzählige Hera-Lind-Bücher zu stützen, die neben ihm standen.
    Mein Name ist Piet Lehmann. Lehmann mit L. Lehmann steht getreu den Gesetzen des Alphabets im Regal neben Lind. Es war nicht schön, mit dieser Autorin in eine Reihe gestellt zu werden. Aber da musste ich durch.
    Kurz: Mein Romandebüt hatte bislang unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden, und deshalb war es eine erfreuliche Überraschung gewesen, als ein Mitarbeiter des NDR-Kultursenders bei mir angerufen und mich gefragt hatte, ob ich für ein Interview zur Verfügung stände.
    Ob ich zur Verfügung stände? Aber hallo!
    Ich würde den Herrn Kulturjournalisten um 15 Uhr im Hamburger Sender treffen. Dass ich für diesen Termin ausgefranste Hosen und ein Simpsons-T-Shirt angezogen hatte, lag nur halb darin begründet, dass ich meine Kleidungsstücke aus Gründen der Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit
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