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Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Titel: Die Habenichtse: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hacker
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sie hatte einen Minibus geliehen und ihn mit all seinen Sachen nach Freiburg gefahren, küßte sie ihn auf den Mund. Die Matratze hatten sie gemeinsam in sein neues Zimmer getragen, und monatelang grämte er sich, daß er nicht mit ihr geschlafen hatte. Bald darauf fing er einen Flirt mit seiner Mitbewohnerin an und schlief mit ihr, doch er bewahrte die Erinnerung an Gertrud, die wirklich seinen Vater verließ, wartete auf einen Brief, der nie eintraf, und erst als er sich, drei Jahre später, in einer Vorlesung über Rechtsgeschichte, neben Isabelle setzte, verliebte er sich wieder.
    Er hatte Hans. Aus dem Kindergarten, antwortete Jakob, wenn er gefragt wurde, woher er Hans kannte. Tatsächlich hatten sie sich in Freiburg kennengelernt, am Tag nach Jakobs Ankunft, an dem Tag, an dem er sich neue Schuhe gekauft hatte und zum ersten Mal in die Mensa zum Essen ging, in teuren Herrenschuhen von Bally, mit denen er den Anfang von etwas markieren wollte, seinen Anfang, den Punkt, von dem an er eigene Erinnerungen haben oder nicht haben würde, die Freiheit abzustreifen, was das kleinliche Gedächtnis anderer ihm aufzuzwingen versuchte. Sie waren beide alleine nach Freiburg gekommen, ohne Freunde oder Mitschüler, die ebenfalls dort Jura studierten, und es traf sich, daß sie in der Schlange vor der Mensa nebeneinanderstanden, in dem warmen Luftzug, vor dem verdreckten, vollgekritzelten Beton, im Essensgeruch, der Jakob Übelkeit bereitete und Hans wunderte. Schritt für Schritt schoben sie sich vorwärts, an einem Bücherstand vorbei, Tag für Tag würden sie hier stehen, und Jakob heftete seinen Blick auf das neue, braune Leder, auf die Nähte, die zuverlässig aussahen und haltbar sein würden. Weil er nicht aufpaßte, rempelte er Hans an, der vor ihm stand, mit dem Studentenausweis in der Hand, als rechnete er jeden Moment damit, sich rechtfertigen zu müssen. Er kam aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald, wo seine Eltern einen Bauernhof hatten.
    Die ersten vier Semester waren rasch vergangen. Sie wanderten über den Bettlerpfad nach Staufen und weiter nach Basel. Sie fuhren per Anhalter nach Straßburg. Einmal nahm Hans ihn an Weihnachten zu seinen Eltern mit.
    Während Hans Vorlesungen in Kunstgeschichte besuchte und keine größere Ausstellung in Basel oder Stuttgart verpaßte, ging Jakob lieber ins Kino oder Konzert, für Politik interessierte er sich wochenweise, dann studierte er mehrere Zeitungen am Tag, ausländische auch. Am Tag nach dem Mauerfall war er morgens zu einem Reisebüro gelaufen, hatte gewartet, bis der Besitzer kam, und zwei Flüge nach Berlin gebucht. Das Flugzeug flog von Stuttgart ab, er lieh sich ein Auto und fuhr mit Hans los, sie waren jedoch zu spät und erreichten den Flug nicht mehr. Danach hatte Jakobs Neugierde wieder nachgelassen, die Regierungen Modrow und de Maizie` re, die Kommentare seines Vaters, der plötzlich fast täglich anrief, stießen ihn ab. Er fühlte sich, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen weg, sein Land, die Bundesrepublik, verschwand, so daß er auswanderte, ohne es zu wollen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Auch das war keine anhaltende Stimmung. Hans lachte ihn aus. Der Einigungsvertrag und das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen beschäftigten Jakob dann aber dauerhaft. Ein Gespräch mit seinem Vater darüber setzte dessen Anrufen ein Ende. An Weihnachten klärte Tante Fini ihn, nicht ohne Häme, darüber auf, daß derlei Vorgänge unangenehme Erinnerungen weckten. In den fünfziger Jahren habe Herr Holbach um seine Firma gebangt, die zu einem sehr anständigen Preis dem jüdischen Partner von Jakobs Großvater abgekauft worden sei. Man wisse nie, so Tante Fini, was die Zukunft bereithielt. Jakob nahm sich vor, dem nachzugehen, das Wort Arisierung aber schreckte ihn zunächst, und im Herbst lernte er Isabelle kennen. Ein einziger gemeinsamer Spaziergang führte sie den Bromberg hinauf, im Tal, neblig, nieselig, lag Freiburg und verschluckte Isabelle nach nur einer Nacht. 1992 legte Jakob das Examen ab und wußte, daß er sein Thema gefunden hatte: offene Vermögensfragen. Zwischen ihm und Hans war ausgemacht, nach Berlin zu ziehen. 1993 traten sie beide das Referendariat in Berlin an, Jakob in der Kanzlei Golbert & Schreiber, die sich auf Restitution spezialisiert hatte und auf Immobilien in Berlin und Brandenburg. Den Gedanken an Isabelle schlug er sich nicht aus dem Kopf. Er mochte, in seinem persönlichen Leben, Kausalitäten nicht; den
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