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Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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und sein Rücken war etwas verwachsen, was ihn zu einer gebückten Körperhaltung zwang. Dennoch war er eine würdige, stattliche Gestalt, die ruhige Gelassenheit und Reife ausstrahlte.
    »Es muss ein eigenartiges Gefühl sein, hier zu leben«, sagte sie nachdenklich. »Inmitten von Jahrzehntausenden großer Geschichte …«
    Sie bemerkte, dass Emparak bei diesen Worten zusammenzuckte, und als sie in seine Augen blickte, sah sie, dass er überrascht war.
    »Als das Kaiserreich endete, war ich noch ein Kind, gerade fünf oder sechs Jahre alt«, fuhr sie fort, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass er ihr tatsächlich zuhörte. »Ich wuchs auf in einer Welt, die im Umbruch war. Ich sah rings um mich Dinge zusammenbrechen, und es begann mich zu interessieren, wie es vorher gewesen war. Das war wohl der Grund, warum ich Geschichte studierte. Und während meines ganzen Studiums hatte ich den Traum, eines Tages hier zu sein, im kaiserlichen Archiv. Ausgrabungen, Recherchen, Feldforschung – das hat mich alles nie gereizt. Dort draußen waren die Fragen – aber hier, davon war ich überzeugt, sind die Antworten. Und ich war nicht daran interessiert zu forschen, ich war daran interessiert zu wissen.« Sie sah ihn an. »Und nun bin ich hier.«
    Er war einen Schritt aus seinem Schatten herausgekommen, wahrscheinlich ohne es zu bemerken. Forschend sah er sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, und Lamita wartete geduldig.
    »Warum erzählt Ihr mir das?«, fragte er schließlich. Es klang gequält.
    Lamita ging behutsam auf ihn zu. Sie atmete tief und langsam ein und versuchte den Mut in sich zu erspüren, der sie vorhin noch beflügelt hatte. »Ich bin gekommen, um herauszufinden, was das ist zwischen uns«, sagte sie sanft.
    »Zwischen … uns?«
    »Zwischen Euch, Emparak, und mir – da ist etwas. Eine Schwingung. Eine Verbindung. Ein elektrisches Feld. Ich spüre es, und ich bin sicher, Ihr spürt es auch.« Sie stand jetzt direkt vor ihm, und es war stark. »Ihr seid mir sofort aufgefallen, Emparak, als ich Euch das erste Mal hier bei den Säulen stehen sah. Ich habe es mir bisher nicht eingestanden, aber Eure Gegenwart löst Begehren in mir aus; ein starkes Begehren, wie ich es noch nie gekannt habe. Ich bin gekommen, um dem nachzugehen.«
    Sein Atem ging keuchend, und sein Blick raste hin und her, über den Boden und die Wände, und wagte es immer nur für Augenblicke, sie anzusehen.
    »Ich bitte Euch, spielt nicht mit mir.«
    »Ich spiele nicht, Emparak.«
    »Ihr seid eine … eine wunderschöne Frau, Lamita. Ihr könnt jeden Mann haben, den Ihr wollt. Aus welchem Grund solltet Ihr Euch mit einem Krüppel wie mir abgeben?«
    Lamita spürte seinen Schmerz plötzlich, als wäre es ihr eigener. Es war ein Gefühl, das seinen Ursprung in ihrer Herzgegend zu haben schien. »Ich finde nicht, dass Ihr ein Krüppel seid. Ich sehe, dass Ihr einen verwachsenen Rücken habt, aber was heißt das schon?«
    »Ich bin ein Krüppel«, beharrte er. »Und ein alter Mann.«
    »Aber ein Mann.«
    Er sagte nichts, stand von ihr abgewandt und starrte auf den marmornen Fußboden.
    »Ich bin gekommen, um zu erfahren, was Ihr fühlt, Emparak«, sagte Lamita schließlich leise. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen. »Wenn es Euch lieber ist, dann gehe ich wieder.«
    Er murmelte etwas, das sie nicht verstand.
    Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Oberarm. »Wollt Ihr, dass ich gehe?«, fragte sie voller Spannung.
    Sein Kopf ruckte herum. »Nein. Geht nicht.« Er wusste immer noch nicht, wohin er schauen sollte, aber seine Hand hatte plötzlich nach der ihren gefasst und hielt sie umklammert, und die Worte sprudelten mit einem Mal aus ihm heraus. »Ich bin ein alter Narr … Das ist alles so … Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, dass ich noch einmal im Leben … und eine Frau wie Ihr! Ich weiß überhaupt nicht, was ich jetzt machen soll.«
    Lamita musste lächeln. »Ich wette, das wisst Ihr ganz genau«, sagte sie.
    Sie war darauf gefasst gewesen, gegen einen lebenslang aufgehäuften Berg von Minderwertigkeitsgefühlen angehen zu müssen, und sie war auch dazu bereit gewesen. Aber als Emparak sie in die Arme nahm und küsste, geschah dies mit einer einfühlsamen Bestimmtheit, die sie grenzenlos überraschte. Sie löste sich förmlich auf in seiner Umarmung. Es war, als ob ihr Körper schon immer auf die Berührung durch diesen Mann gewartet hätte.
    »Darf ich Euch zeigen, wo ich wohne?«, fragte er schließlich,
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