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Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Ingrid Hedström
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hängte, eine Lampe.
    In drei langen Sprüngen überwand er die Treppe und lief zum hohen Turm des Fördergerüstes, jetzt beinah sicher, daß er den letzten Fahrkorb noch erreichen würde. Aber als er zur Winde kam, sah er das Oberteil des Korbs in den Schacht hinunter verschwinden. Er rief hinterher, aber niemand hörte im Lärm der Werke und dem Dröhnen der Dieselmotoren seine Stimme. Guy Huytgens guckte in letzterSekunde hoch und sah ihn enttäuscht dort stehen, aber er lächelte ihm nur höhnisch zu. Typisch Guy!
    Was sollte er jetzt machen? Wenn er es sich hätte leisten können, einen Tageslohn zu verlieren, hätte er gern den Job geschwänzt, aber er war sowohl Suzanne als auch anderen schon viel zuviel Geld schuldig, und er wollte die Schuldenlast nicht vergrößern. Nicht jetzt.
    Er trat ein paar Meter zurück, um zu überlegen, stellte sich mit dem Rücken an einen Stapel Holz für Stollenstützen und sah über das Tal hinaus. Die Sonne wärmte sein Gesicht, und er schloß die Augen. Vor sich sah er eine trostlose Zukunft mit einer unendlichen Reihe gleicher Tage mit derselben Fahrradfahrt, demselben Knochenjob, denselben Vorarbeitern und demselben erbärmlichen Lohn. Dazu kam jetzt die Vision eines Zuhauses mit einer immer nörgeligeren und immer dickeren Suzanne und einer zu versorgenden, wachsenden Familie.
    Es muß ein anderes Leben geben, dachte er und sah zum Himmel hinauf. Hoch, hoch da oben flog in weiten Kreisen ein Raubvogel. Er folgte ihm träge mit dem Blick und sah, wie er plötzlich geradeaus zum Boden niederstieß, ein tödlicher, lotrechter Pfeil zu einer Beute unten auf dem Feld, die der kalte Raubvogelblick erspäht hatte.
    Genau da hörte er das Dröhnen, ein dumpfes und erschreckendes Grollen aus dem Inneren der Erde, so tief im Ton, daß es sich mehr wie eine Vibration im Körper als ein Geräusch anfühlte, eine Vibration, die jeden Knochen im Körper erschütterte, als würde er sich gleich von seinem Haltepunkt lösen. Es war ein Geräusch, an das sich sein Körper erinnerte und das angsterregende Bilder aus den dunklen Winkeln des Gedächtnisses aufsteigen ließ – zerschossene Häuser, eine Brücke, die es nicht mehr gab, eineStraße mit fliehenden Menschen, ein Pferdekörper ohne Kopf.
    Seine erste Reaktion war, sich auf den Boden zu werfen und hinter den Holzstapel zu rollen, ein kindisches Gefühl, dessen er sich sofort schämte, denn er war jetzt erwachsen und begriff, daß es an einem sonnigen Augusttag in einem Land, wo der Krieg seit langem zu Ende war, kein Artilleriefeuer war, was er hörte.
    Seine zweite Reaktion war, zum Schacht zu laufen und zu sehen, womit er helfen könnte. Er dachte an die hundertsiebzig Mann, die unten in der Grube waren, an Roberto, Angelo, Pierre und die anderen. Aber dann sah er aus allen Richtungen, von der Sortieranlage und den Werkstätten und dem Büro, Menschen angerannt kommen und fragte sich, was er unter so vielen tun könne.
    Seine dritte Reaktion war die Einsicht, daß das, was vor einer halben Stunde wie ungewöhnliches Pech ausgesehen hatte, ein Glückstreffer in der Klasse mit dem Hauptgewinn im Lotto war und daß er etwas daraus machen sollte. Und plötzlich war ihm der Plan klar, tauchte in seinem Gehirn auf wie eine Offenbarung, ebenso rein und perfekt wie der Schlag des Raubvogels auf seine Beute.
    Er hielt sich im Schatten des Holzstapels und zog sich vorsichtig vom Fördergerüst zurück. Keiner beachtete ihn. Alle sahen zum Schacht, wo jetzt eine dünne, unglückverheißende Rauchsäule aufzusteigen begonnen hatte.
    Das Büro war leer. Er ging hinein und nahm, was er brauchte. Dann kroch er am Zaun entlang zum Fahrradständer und nahm Suzannes Paket vom Fahrradkorb, wo er es vergessen hatte, als er zum Umkleideraum gerannt war.
    Wenn er jetzt nur noch unbemerkt rauskommen könnte … Doch das schien kein Problem zu sein, das Häuschendes Wachmanns an der hinteren Gittertür war leer, und er konnte ruhig durch das Drehkreuz schlendern und mit dem Paket unter dem Arm den Pfad hinunter in den Wald nehmen, gerade als die Sirene zu heulen begann, ein abgrundtiefes Heulen, das ihn, obwohl es klang wie die Luftangriffssirenen, an die er sich erinnerte, jetzt unberührt ließ.
    Das war eine dieser entscheidenden Wegscheiden im Leben, und in den Jahren, die kamen, zweifelte er fast nie daran, daß er den richtigen Weg gewählt hatte. Fast nie.

KAPITEL 1
    Mittwoch, 21. September 1994
    Villette
    Die Sonne war schon hinter dem
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