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Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Ingrid Hedström
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Horizont versunken, aber der orangefarbene Schein der Halogenlichter beleuchtete den Prahm, der am Kai lag. Außerhalb des Lichtkreises der Scheinwerfer verdichtete sich das Dunkel, und der Fluß war dunkel, beinah schwarz. Die Feuchtigkeit, die vom Wasser aufstieg, bildete Nebelschleier darüber, magische Finger aus Dunst, die orange leuchteten, wenn sie über die schwarze Erzladung glitten und das Halogenlicht in den mikroskopischen Wassertropfen reflektiert wurde.
    Jérôme arbeitete gern in der Abendschicht. Er konnte schlafen, solange er wollte, und wenn er den Dienst verließ, war es immer noch nicht zu spät, um mit den Kumpeln auszugehen. Eine schnelle Dusche im Umkleideraum, ein Kamm durch die dunkelblonden Haare und vielleicht etwas zusätzliches Frisiergel, ein Anruf bei einem der Freunde, und er war bereit, sich zu amüsieren.
    Und der September war gut, nicht wie die Sommermonate, in denen es meistens eine Qual war, Helm und Overall zu tragen.
    Er betrachtete den Prahm, der vor dem Hintergrund des dunklen Flusses, auf dem das Heck im Nebel verschwand, gigantisch aussah. Mit seiner Länge von fast hundert Metern und seiner Ladung von zweitausend Tonnen Eisenerz war er einer der größten, die diesen Teil der Meuse befuhren. Jérômes Job an diesem Abend bestand darin, genug Kondition aufzubringen, um die halbe Nacht im Le Garagezu tanzen, wenn die Kumpel immer noch dort hingehen wollten. Die Löschung von Eisenerz aus dem Prahm war fast komplett automatisiert. Er mußte lediglich darauf achten, daß alles reibungslos ablief, daß nichts steckenblieb und daß die Waggons des Zuges, der das Erz zum Sinterwerk brachte, davonrollten, um in dem Tempo, in dem sie gefüllt wurden, neuen Platz zu machen. Wenn etwas schiefging, mußte er natürlich eingreifen, aber das passierte selten.
    Ein neuer Waggon rollte heran, um gefüllt zu werden, und er gab Guido Leone am anderen Ende des Zuges ein Zeichen, während er gleichzeitig ein paar Takte von »Mr. Vain« pfiff, einem Teenagersong, der seiner sechzehnjährigen kleinen Schwester gefiel, der aber trotzdem seine Füße immer zum Kribbeln brachte, wenn er ihn in einem rauchigen Kellerlokal auf einer vollgepackten Tanzfläche hörte.
    Etwas ließ ihn innehalten, und er hörte mitten in einem Takt auf zu pfeifen. Der Baggerlöffel leerte noch eine Ladung Erzschlich aus dem Prahm, die mit einem dumpfen Schmatzen auf den Boden des leeren Waggons traf. Aber es war noch etwas anderes darin gewesen, etwas, das mit einem ganz anderen Geräusch als das Erz landete …
    Er dachte eine Sekunde, er habe nicht richtig gesehen, obwohl er wußte, daß das nicht so war. Wie auch immer, er mußte die Löschung sofort abbrechen, der Baggerlöffel hatte schon ein paar Ladungen Schlich über Das Da geleert.
    Er lief zum Baggerlöffel und drückte auf den Halteknopf, während er gleichzeitig den holländischen Besatzungsmitgliedern, die rauchend an Deck standen, das Stopzeichen gab.
    – Stop! rief er sicherheitshalber.
    – Wat gebeurt ? sagte einer der Holländer und stoppte gleichzeitig die Maschinerie.
    Jérôme begriff, daß sein niederländischer Wortvorrat nicht ausreichte, um das Unfaßbare zu sagen.
    – Ich meine, ich hätte eine Leiche gesehen, sagte er mißmutig auf französisch.
    – Je zag een lijk ? wiederholte das ältere Besatzungsmitglied, während der Jüngere von ihnen den Kopf schüttelte und lachte.
    – Was hast du geraucht, Junge, das muß starker Tobak gewesen sein, sagte er.
    Jérôme machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Er kletterte auf den Waggon und sah hinunter, während gleichzeitig Guido Leone das Gleis entlang angelaufen kam und etwas rief, das Jérôme nicht hörte.
    Der Boden des Waggons lag im Schatten, und auf dem schwarzen Boden bildete die Erzladung einen Hügel von noch tieferem Schwarz, aber etwas leuchtete weiß da unten.
    Es war eine einsame Hand an einem Arm in einem Jeanshemd, die wie der letzte Hilferuf eines Ertrinkenden aus dem Schlichhaufen aufragte.
    Jérôme hatte einen Augenblick das Gefühl, daß das Blut aus seinem Gehirn wich, und er klammerte sich an der Seite des Waggons fest, um nicht zu fallen. Er guckte hinunter. Die Holländer waren an Land gegangen und standen zusammen mit Guido da und sahen zu ihm herauf.
    – Nein, nein, ich habe nichts geraucht, sagte Jérôme und sprang hinunter.
    Etwas später saß er auf einem der harten Stühle im Pausenschuppen, eingehüllt in eine Decke, die Guido aus dem Schrank mit dem
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