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Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Ingrid Hedström
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niedrigsten Gang den Hang hinauf, munter pfeifend, als er daran dachte, daß er jetzt auf dem Fahrrad an den Ort zurückkehrte, den er vor fast vierzig Jahren auf dem Fahrrad verlassen hatte. Damals war das Fahrrad ein rostiger, plumper, alter Drahtesel gewesen, mit einer Kette, die ständig absprang. Jetzt hatte er ein Vélo Éclair, das avancierteste Modell mit zwölf Gängen, so leicht, daß man es unter dem Arm tragen konnte.
    Nunzia Paolini wartete auf ihn oben auf der Anhöhe zwischen den rostigen Baracken. Er war beinah sicher gewesen, daß sie die Nachricht, die er auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, verstehen würde, aber es war dennoch eine Erleichterung zu sehen, daß er recht gehabt hatte. Er hatte eine Melodie gepfiffen, das ungarische Erntelied, das er ihr früher beigebracht hatte, und dann auf italienisch gesagt: »Ci vediamo a casa alle otto« , wir sehen uns um acht zu Hause. Wer rein zufällig ihren Anrufbeantworter abhören sollte, würde hoffentlich davon ausgehen, daß einer ihrer italienischen Freunde angerufen hatte.
    Sie stand da, die Hände versenkt in den Taschen eines blauen Popelinemantels, der ziemlich schäbig aussah. Als sie ihn den Hang heraufkommen sah, kam sie ihm mit schnellen Schritten entgegen. Ihre Augen waren, wie er sie in Erinnerung hatte, groß und dunkel wie Stiefmütterchen in dem runden Gesicht, aber sie lächelte ihn nicht an.
    – Figlio di puttana! Ladrone! rief sie im Italienischen der Kindheit, aber mit Worten, die sie wegen Giovanna nie hatte benutzen dürfen.
    Er lächelte ein wenig.
    – Sprich französisch, Nunzi, sagte er, genau wie er es gesagt hatte, als er sie das letzte Mal gesehen hatte, damals, als er verschlafen hatte und von der Baracke aus losgeradelt war, um nie zurückzukehren.
    Aber sein Herz war nicht so verhärtet, daß er nicht begriffen hätte, warum sie so zornig auf ihn war. Die Familie Paolini war in dem letzten Jahr, in dem er dort gewohnt hatte, wie seine eigene Familie gewesen, und Annunziata mit den großen schwarzen Augen, dem warmen Herzen und dem klaren Intellekt war wie eine kleine Schwester für ihn gewesen, die er sehr gern hatte. Er hatte sie vermißt. Als er nach Schweden gekommen war, war die kleine Sophie Héger eine Art Ersatz geworden.
    Jetzt hatte er ja seine eigenen Töchter. Sein Herz wurde warm, wenn er an Isabelle und Catherine dachte, so voller Leben und Neugier, aber gleichzeitig so ernst und klug, seine eigenen Mädchen, überhaupt nicht wie ihre hochmütige Mutter.
    Manchmal hatte er davon geträumt, Annunziata und Sophie wieder zu begegnen und zu sehen, wie sie als Erwachsene geworden waren. Er hatte Sophies Karriere verfolgt, und einmal hatte er versucht, sie als Gast für eine Folge der»Bullen« zu gewinnen. Sie hätte eine schwedische Prinzessin zu Besuch in Saint-Tropez spielen sollen, aber schließlich hatte ihr Agent nein gesagt. Er fragte sich immer noch, ob sie ihn wiedererkannt hätte.
    Annunziata Paolini dagegen war kein internationaler Star, dessen Leben er in der Presse hätte verfolgen können, und obwohl er oft an sie und ihre Familie gedacht hatte, hatte er nie einen Finger gerührt, um herauszufinden, wie es ihnen nach Angelos Tod ergangen war. In seinem Inneren sagte eine unwillkommene kleine Stimme, daß er sie alle verraten hatte, und besonders die Frau, die jetzt mit flammenden Augen vor ihm stand, etwas zu füllig in ihrem ein paar Jahre zu alten Mantel.
    – Wie konntest du, sagte Nunzia und sah ihm direkt in die Augen, wie konntest du?
    Er hatte keine Antwort.
    – Ich habe mein ganzes Leben dem Kampf um Gerechtigkeit gewidmet, für Papa und die anderen, die in der Grube gestorben sind, sagte sie, und die ganze Zeit hast du den Beweis dafür gehabt, daß die Grubengesellschaft sie in den Tod geschickt hat. Aber du hast sie wie ein widerwärtiger Judas für lumpiges Geld verkauft. Wie konntest du?
    Die Worte, die er Martine Poirot gesagt hatte und die er für sich in Nächten, die manchmal kamen, zu wiederholen pflegte, Nächten, in denen ihm das Schlafen schwerfiel, klangen bedeutend weniger überzeugend, als sich Nunzias anklagender Blick wie glühende Kohlen in ihn bohrte.
    – Aber ich war so jung, sagte er, ich war erst siebzehn.
    Er sah in Nunzias dunklen Augen etwas, das wie Verachtung aussah.
    – Ich war noch jünger, sagte sie hart, und ich war gezwungen, die ganze Verantwortung zu übernehmen. Erststarb mein Vater, und dann wurde meine Mutter verrückt, und Nali und ich
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