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Die große Flut

Die große Flut

Titel: Die große Flut
Autoren: Madeleine L'Engle
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Lamech, holte vorsichtig mit dem Rüssel etwas aus dem Ohr und hielt es dem Alten hin. Es war ein Mistkäfer, ein Skarabäus. Seine Flügeldecken glänzten im Widerschein der Öllampe. Großvater Lamech setzte ihn auf die Handfläche, fuhr ihm sanft und zitternd mit der Spitze des Zeigefingers über den Rücken, schloß die Hand.
    Ein Lichtblitz, ähnlich dem, der vom Horn des Einhorns ausgegangen war.
    Im Zelt stand eine hohe Gestalt, nickte dem alten Mann freundlich zu, betrachtete dann Sandy voll stillem Ernst. Die Gestalt hatte die gleiche zarte Aprikosenhaut wie Yalith. Haare so hell und golden wie Weizen, auf den die Sonne scheint. Langes, fülliges Haar, in den Nacken gebunden. Tief fiel es über den Rücken und bedeckte beinahe die eng anliegenden Flügel, die sich unter dem Gewand abzeichneten. Goldhelle, schimmernde Flügel. Und Augen, unglaublich blaue Augen. So glänzt das Meer, wenn die Sonne die Wellen streift.
    Lamech grüßte ihn ehrerbietig. »Adnarel, wir danken dir.« Und zu Sandy sagte er: »Der Seraph wird dir helfen. Seraphim sind gute Heiler.«
    Das also war ein Seraph. Groß, größer noch als Dennys und er. Doch damit endete jeder Vergleich. Der Seraph war… anders. Herrlich schön. Aber fremd.
    Er wandte sich an Lamech. »Wen hast du denn da?«
    Lamech verneigte sich. Kleiner und zerbrechlicher denn je wirkte er vor dem Geflügelten. »Er kam zu uns… Wie du siehst, fast so hoch gewachsen, wie ihr es seid. Doch andererseits irgendwie unfertig.«
    »Er ist noch sehr jung«, sagte der Seraph Adnarel.
    »Kaum aus dem Ei geschlüpft. Du hast recht. Er ist keiner von uns. Und keiner von den Nephilim.«
    »Und auch nicht unseresgleichen«, sagte Lamech. »Ich glaube aber, wir müssen ihn nicht fürchten.«
    Adnarel berührte Sandy an den Schulterblättern, tastete mit zartgliedrigen Fingern prüfend über den Rücken. »Keine Flügel. Nicht einmal Stummel.«
    Higgaion näherte sich dem Seraph, stupste ihn vorsichtig an, wies mit dem Rüssel zum Wasserkrug.
    Adnarel bückte sich und kraulte das Mammut hinter dem Ohr. »Hole den Pelikan!« befahl er.
    Higgaion verließ das Zelt. Lamech mußte den Kopf in den Nacken legen, um Adnarel in die strahlend blauen Augen schauen zu können. »Handeln wir recht, indem wir seine verbrannte Haut kühlen und feucht halten?«
    Adnarel nickte. Die Zeltklappe schlug auf, und Higgaion kam zurück, gefolgt von einem großen, weißen Pelikan. Der watschelte zum Krug, öffnete den Schnabel, ließ daraus Wasser in den Krug rinnen.
    Lamech bat ängstlich: »Wird der Pelikan uns helfen? Der Krug ist rasch geleert, und ich bin alt und kann nicht so oft zum Brunnen gehen.«
    Adnarel beruhigte ihn. »Fürchte dich nicht. Alarid wird für alles Sorge tragen.«
    »Ein Pelikan in der Wüste?« fragte Sandy staunend. War das ein Fiebertraum?
    »Ein Pelikan in der Wildnis«, bekräftigte Adnarel. Er kniete nieder und legte die Hand auf Sandys gerötete Wange. Seinen Fingern entströmte heilende Wärme. Sandy hatte sich bereits einigermaßen an die stickige Luft im Zelt und den beißenden Geruch der Ziegenfelle gewöhnt. Nun brachte der Seraph lindernde Frische in diese Enge.
    »Woher kommst du?« wollte Adnarel wissen.
    Sandy seufzte. »Vom Planeten Erde – auf dem ich mich noch immer befinde?«
    Der Seraph lächelte, ohne die Frage zu beantworten. Er
    strich Sandy sanft über die Stirn. Die Berührung half, die verwirrten Gedanken zu ordnen. »Und woher vom Planeten Erde kommst du?«
    »Aus dem Nordosten der Vereinigten Staaten. Aus New England.«
    »Was führte dich hierher?«
    »Ich ... ich weiß es nicht. Unser Vater arbeitet an einer Theorie über die fünfte Dimension und die Tesserung…«
    »Ah.« Adnarel nickte. »Hat er dich geschickt?«
    »Nein, uns ist...«
    »Uns?«
    »Meinem Zwillingsbruder Dennys und mir, uns ist… Es war unsere Schuld. Wir haben dummerweise und ohne es zu bemerken in ein Experiment unseres Vaters eingegriffen.«
    »Wo ist Dennys?«
    Sandy stöhnte.
    »Der Bruder, der Den, ist mit einem Einhorn aufgegangen«, erklärte Großvater Lamech. »Das wurde aber, scheint es, inzwischen anderswohin gerufen. Japheth hat sich bereits auf die Suche gemacht.«
    Der Seraph hörte aufmerksam zu und nickte. »Fürchte dich nicht«, sagte er zu Sandy, »dein Bruder wird wiederkehren. Einstweilen bleibst du in der Obhut von Großvater Lamech und Higgaion.« Er griff in die Falten seines Gewandes, holte eine Handvoll Kräuter heraus und streute sie in den
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