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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege
Autoren: Yannick Grannec
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Sie wog das Päckchen in der Hand ab – darin war bestimmt nicht der Nachlass. Aber das war ihr egal. Ihre Entscheidung, Princeton zu verlassen, war gefallen. Dieses Mal war ihre längere Abwesenheit keine Flucht gewesen. Eingewickelt in ihre rote Wolljacke, hatte sie in dieser Zeit Kräfte gesammelt. Noch am Vormittag würde sie in Adams’ Büro ihre Kündigung einreichen.
    Anna hatte immer auf Gerechtigkeit gehofft. Auf eine Ordnung. Kurz hatte sie geglaubt, es sei ihre Lebensaufgabe auf Erden, diese Papiere zu besorgen. Adele hatte ihre Lebensaufgabe angenommen: Ihr Gott hatte sie geschaffen, damit sie verhinderte, dass das Genie sich vor der Zeit zurückzog. Sie war der Dung des Erhabenen gewesen – Fleisch, Blut, Haar, Scheiße, ohne die der Geist nicht existiert. Sie war die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung gewesen. Sie hatte eingewilligt, nur ein Glied in der Kette zu sein – auf immer die ungebildete, gute, dicke Österreicherin.
    Heute hätte Anna ihr gern gesagt, dass sie irrte: Im Kontinuum der aufgelösten Körper und der vergessenen Seelen ist ein Leben genauso viel wert wie ein anderes. Wir alle sind nur Rädchen im Getriebe, keiner hat eine Mission. Adele hatte Kurt geliebt, etwas Wichtigeres gab es nicht.
     
    In ihrem Büro roch es nicht muffig, wie sie befürchtet hatte. „Man“ hatte gelüftet und es mit einer Grünpflanze geschmückt, die von einer Karte begleitet war: „Gute Besserung, Calvin Adams.“ Diese Aufmerksamkeit überraschte sie, sie hatte bestenfalls einen letzten Rüffel erwartet. Sie warf einen trotzigen Blick auf ihr Fach, das vor Post überquoll. Sie wollte mit Adeles Brief beginnen. Nachdem sie sich eine Tasse Tee gekocht hatte, setzte sie sich unaufgeregt hin. Sie schnupperte an dem Papier und meinte, einen Hauch Lavendel zu riechen. Sie schluckte den Knödel im Hals hinunter – Adele hätten ihre Tränen nicht gefallen.
     
    Liebe Anna,
    ich vermache Kurt Gödels Nachlass der Bibliothek von Princeton. Etwas anderes hatte ich nie vor. Ich beauftrage Elizabeth damit, die Kartons „von Ihren Händen“ dem Leiter des IAS zukommen zu lassen. Das ist kein Geschenk – betrachten Sie es keinesfalls als solches! Alles hat seine Zeit, Anna: Es gibt eine Zeit, sich hinter Büchern zu verstecken, und eine Zeit, zu leben.
    Sie haben mir sehr viel mehr gegeben, als Sie nur hoffen konnten. Meine letzten Gedanken werden all dem Wunderbaren gelten, das Sie noch vor sich haben, und nicht dem, was ich vermissen sollte. Ich wünsche Ihnen ein wundervolles Leben.
    Ihre
    Adele Thusnelda Gödel
     
    Die Schrift war energisch, sehr ordentlich. Aber nach ihrer Unterschrift hatte Adele ein eher spontanes Postskriptum angefügt, in dem Anna Adeles körperliche Präsenz spürte : Vergessen Sie nicht zu lächeln, Mädel!
     
    Anna machte sich daran, die komplizierte Verpackung zu entfernen. Elizabeth war eine sehr gewissenhafte Frau. Das Paket beinhaltete einen verblassten rosa Flamingo aus Zement. Anna wurde von so einem Lachen geschüttelt, dass ihr die Tränen kamen. Sie stellte den unhandlichen Vogel auf ihren Schreibtisch, dann leerte sie ihre Tasche aus. Sie musste nicht weiter wühlen – Leos Telefonnummer diente als Lesezeichen in ihrem Buch Das Aleph , das sie bei allen ihren Besuchen in Pine Run begleitet hatte. Sie hatte es nicht ausgelesen.
    Sie faltete den Zettel auseinander. Auf ein paar Programmierzeilen hatte Leo ein paar kategorische Ziffern gekritzelt, gefolgt von einem „Unbedingt. Bitte!“, dreimal unterstrichen. Durch das Fenster betrachtete Anna den großen, schneebedeckten Rasen, in dem sich der niedere, weiße Himmel widerspiegelte.
    Und dann wählte sie Leos Nummer, eine Zahlenfolge ohne jede Logik, aber von vollkommener Eleganz.

 
     
    Kurt Gödel, Groucho Marx und Paul Heisenberg
    stehen am Tresen einer Bar.
    Heisenberg sagt: „Es wäre zwar sehr unwahrscheinlich,
    aber ich frage mich, ob wir nicht gerade in einem Witz leben.“
    Gödel sagt: „Ständen wir außerhalb eines Scherzes,
    wüssten wir das, aber da wir uns im Inneren befinden,
    haben wir keine Möglichkeit zu beurteilen,
    ob wir, ja oder nein, in einem Witz leben.“
    Und Groucho Marx erwidert:
    „Aber natürlich ist es ein Witz –
    nur erzählen Sie ihn schlecht!“
     
    Für meinen Vater, zum Abschied.

Danksagung
    Dank geht an meinen Liebsten, der lange vor mir an alles geglaubt hat. An meine Kinder, die mir hin und wieder Zeit zum Schreiben gelassen haben. An meine Mutter, die mir
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