Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade
Autoren: Andreas Martin Widmann
Vom Netzwerk:
diesen Sekunden strickten sich meine Gedanken um die Geräusche, die von draußen kamen, und ich hatte das Gefühl, als liefe ich und machte einen Schritt ins Leere, nur dass ich nicht fiel, sondern von der Luft getragen wurde.
    Es dämmerte, als mein Vater anklopfte, um mir zu sagen, er wolle noch einmal los und meiner Mutter ein paar Sachen bringen. Er stand mit einer schwarzen Ledertasche unterm Arm in der Tür, und ich sah, dass er seine lange Jacke mit der Fellkapuze trug.
    «Es ist schweinekalt draußen», sagte er.
    «Ja», sagte ich. «Hier drinnen auch.»
    Er lachte. «Es dauert sicher nicht lang. Aber du kannst schon essen, wenn du magst.»
    Nachdem er gegangen war, schaltete ich den Fernseher an und klickte mich durch die Kanäle. Es war unsinnig, trotzdem hoffte ich, Lisa Heller zu sehen. Doch auf ihrem Sender lief Werbung für eine Gemüseraspel, die von einem Mann in einer weißen Schürze präsentiert wurde. Er zeigte, was man alles damit anstellen konnte; er baute sie auseinander, ließ Wasser darüberlaufen und steckte die Teile dann wieder zusammen. Unglaublich, wie leicht sich dieses Ding reinigen lässt, sagte er.
    Es sah nicht so aus, als wäre seine Show bald zu Ende, deshalb ließ ich noch ein paar Programme durchfallen. Bei einer amerikanischen Krimiserie blieb ich hängen. Sie musste gedreht worden sein, bevor ich geboren wurde – ich konnte es an den Autos und an den Telefonen sehen. Es ging um einen Mord in einem Golfclub, mehr verstand ich zuerst nicht, aber bald erklärten sich die Dinge von selbst aus dem, was die Männer sagten. Anschließend machte ich mir ein paar Brote, obwohl ich keinen Hunger hatte, einfach um etwas zu tun, das völlig normal war und sich normal anfühlte. Ich aß sie, während ich auf demselben Sender einen Western anschaute, der noch älter war als die Krimiserie vorher, denn er war in Schwarzweiß. Zu Anfang fährt ein Mann mit seiner Frau im Zug in eine kleine Stadt irgendwo in Amerika. Der Mann ist irgendein hohes Tier in der Politik, aber er hat früher in dieser Stadt gelebt und kommt zurück, um zur Beerdigung eines anderen Mannes zu gehen, den er hier gekannt hat. Als er den Sarg sieht, erinnert er sich an etwas, das passiert ist, als er jung war. Am besten gefiel mir der Schwarze, der in dem leeren Zimmer mit dem Sarg sitzt und so etwas war wie ein Angestellter des Toten, aber offenbar auch sein Freund. Er fährt den Fremden mit einer Kutsche herum, zu dem Haus des Mannes, das schon ganz verfallen ist. Der Zaun ist zerbrochen, im Stall stehen keine Pferde mehr.
    Weiter kam ich nicht. Mein Vater rief um kurz nach zehn an. Seine Stimme klang nicht gut, so als spräche er ohne Vokale, und sie zu hören war wie ein Schlag ins Gesicht, bei dem der Schmerz kurz ausbleibt, bevor er richtig ankommt.
    «Ich hab einen Unfall gehabt», sagte er.
    «Wo bist du?», fragte ich.
    «Das ist es ja», sagte er. «Ich bin gar nicht weit weg. Vorn an der Brücke. Es war Eis auf der Straße.»
    Erst als ich aus der Tür ging, merkte ich, dass es angefangen hatte zu schneien. Die Flocken waren klein und trieben mir schnell und schräg entgegen. Auf dem Boden war noch kaum etwas zu sehen, nur ein dünner heller Belag, von dem bei jedem Schritt etwas unter meinen Sohlen kleben blieb. Die kalte Luft schnitt im Rachen, und gleichzeitig schwitzte ich. Bis ich zur Brücke kam, war ich außer Atem, und mein Herz pumpte heftig.
    Ich sah meinen Vater schon, bevor ich auf der anderen Seite des Flusses war. Er lag neben der Straße, wo das Licht der Laterne nicht mehr hinreichte. Die Kapuze seiner Jacke machte seinen Kopf riesig, nur daran erkannte ich, wo seine Beine lagen und wo sein Oberkörper sein musste.
    Ich ging über die Brücke, langsamer jetzt. Der Schnee fiel auch weniger schnell, aber dichter und in dickeren Flocken. Auf den Bohlen blieb weniger davon zurück als auf dem Teer und auf der Wiese. Die Brücke war nicht weiß, nur nass, und ich fragte mich, ob es daran lag, dass das Wasser wärmer war als der Boden, oder welchen Grund es sonst dafür geben konnte. Als käme es jetzt darauf an.
    Mein Vater hob einen Arm über den Kopf und schwenkte ihn. Ich winkte zurück; genau wie er holte ich mehrmals weit aus. Als ich neben ihm stand, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Er hatte sich auf seinen abgewinkelten linken Arm gestützt, sein Mund und sein Kinn waren verschmiert. In der rechten Hand hielt er ein zerknülltes Stofftaschentuch, das er gegen die Platzwunde
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher