Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade
Autoren: Andreas Martin Widmann
Vom Netzwerk:
Erklärung auffordere, jedenfalls erinnerte er uns wieder einmal daran, wie er den Vermieter angerufen hatte, weil es im Bad durch die Decke tropfte, und wie der erklärt hatte, wir müssten beim Duschen eben besser aufpassen. «Dabei kam das Wasser von oben», sagte mein Vater.
    Meine Mutter schwieg dazu. Ich schaute auf den Fernseher, der schon während des Essens gelaufen war, ohne dass jemand darauf achtgegeben hätte, auf das Bild eines Mannes mit einem Mikrophon, der vor einer dunklen Stadt stand. Es war dieser Tick, den ich seit kurzem entwickelt hatte, mich einfach nicht auf das zu konzentrieren, was mich anging, sondern an etwas anderes, Abgelegenes zu denken, selbst wenn man mit mir sprach. Auf einmal griff mein Vater zur Fernbedienung und schaltete den Apparat aus, als wollte er damit klarstellen, dass die Angelegenheit für ihn erledigt war.
    «Wir haben sogar einen Garten», sagte er in die Stille. «Nichts Großes, aber immerhin. Und in der heutigen Zeit.»
    Die
heutige Zeit
hatte für meinen Vater irgendwann in den Achtzigern begonnen, bevor ich geboren wurde. Bevor er aufgehört hatte, Fußball zu spielen, und nachdem er meine Mutter kennengelernt und sich von seiner ersten Frau getrennt hatte. Zwei Jahre lang hatte er mit ihr in einem Hunsrückdorf gelebt, wo sie als Sekretärin in einem Versandlager arbeitete, während er, soviel ich wusste, nichts tat außer Fußballspielen und gleichzeitig so etwas war wie der Platzwart für den örtlichen Sportverein. Damals, sagte er einmal, sei er
unentbehrlich
gewesen, und wenn ich daran dachte, stellte ich mir einen Mann vor, der allein über den Rasen geht, eine Zigarette raucht und aussieht, als könnte ihm nichts etwas anhaben. Er sah aus wie der Mann auf dem Foto aus Portugal, das ich von ihm kannte, mit einem Bart, in roten Leinenhosen und Sandalen.
    «Für dich ändert sich nicht viel», sagte er und stieß mich an der Schulter an, dann stand er auf, und nach ein paar Minuten hörte ich das Rauschen der Dusche aus dem Bad. Meine Mutter ging auch aus dem Zimmer, und ich sah sie an diesem Abend nicht wieder.

[zur Inhaltsübersicht]
    [2]
    Eine Woche später fuhren wir zusammen zu dem Campingplatz. Mein Vater hatte einen Besichtigungstermin mit jemandem vereinbart, der, wie der Verwalter ihm mitgeteilt hatte, seinen eigenen Caravan auf dem Platz verkaufen wollte. Es war Sonntagnachmittag, über den Wohnblocks hing ein kalter Dunst, und die Straßen waren wie ausgefegt. Ich stellte mir vor, die Stadt wäre von einer Seuche befallen worden und wir wären die letzten Überlebenden. Wir fuhren an zugezogenen Gardinen vorbei, und ihr zerknittertes Weiß erinnerte mich an alte Zeitungen.
    Vor zwei Jahren waren wir aus Hanau hierhergezogen, als meine Mutter ihre Stelle im Reisebüro verloren hatte und mein Vater anfing, beim Wachdienst zu arbeiten. Bis dahin hatte er für UPS Pakete ausgeliefert und als Hilfsfahrer auch Mietwäsche an Hotels und Autobahnraststätten. Ich weiß nicht, was damals dahintersteckte, aber er sagte, er wollte einen Schnitt machen und sich woanders umschauen. Jetzt war es wieder so weit.
    Keiner sprach, während wir im Auto saßen. Meine Mutter schaltete das Radio an und suchte nach Musik, die ihr gefiel. Alle paar Minuten stellte sie einen neuen Sender ein. Normalerweise konnte mein Vater das nicht ertragen, aber heute beklagte er sich nicht. Er hielt das Lenkrad mit beiden Händen und starrte stumm geradeaus. Ich selbst schaute aus dem Seitenfenster auf die leeren Straßen und Gehwege. Die Siedlung lag am Stadtrand in der Nähe einer stillgelegten Fabrik für Lacke und Farben, und sie wurde von einer breiten Hauptstraße in zwei Teile zerschnitten. Auf unserer Seite gab es keine Einfamilienhäuser, überhaupt keine freistehenden Häuser, sondern nur Flachdachbauten mit fünf Stockwerken oder mehr, die alle weiß oder hellgelb gestrichen waren. Zwischen zwei Häuserblöcken stand je eine lange Flucht von Teppichstangen wie leere Fußballtore. Wegen der Bremsschwellen auf der Straße fuhr mein Vater sehr langsam, und ich sah die Teppichstangen immer einen Moment lang genau von vorn, ich schaute wie in einen Tunnel, bevor sie wieder auseinandersprangen und sich nach hinten verschoben, während wir über die nächste Schwelle rollten.
     
    Der Campingplatz lag an der Spitze einer Insel. Davor gabelte sich der Fluss in zwei ungleiche Arme, deren einer breit und schnell war. Der andere war ein toter Arm, den man abgeschnitten hatte, als der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher