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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade
Autoren: Andreas Martin Widmann
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Von Marcel wusste ich, dass er schon öfter beim Klauen erwischt worden war und Sozialstunden machen musste. Einmal, im vergangenen Winter, hatte ich ihm sogar angeboten mitzukommen, als er nachmittags irgendwo mit einer langen Zange und einem Eimer Müll aufsammeln sollte. Wir waren ein paar hundert Meter zusammen gegangen, bis zu einem Parkplatz, auf dem um diese Zeit Weihnachtsbäume verkauft wurden, und dort hatte er plötzlich gesagt, er wolle doch lieber allein hingehen, und war davongerannt. Er gab vor allem damit an, was er alles besorgen könne. Wenn jemand etwas erwähnte, egal, ob es ein Computerspiel war oder ein Handy oder eine Jeans, sagte er immer: «Kann ich dir besorgen, wenn du willst.» Angeblich konnte er sogar eine Handgranate oder einen Panzer besorgen. Daran dachte ich immer als Erstes, wenn ich an ihn dachte, ich stellte mir vor, wie er losging, um einen Panzer zu besorgen. Mit den meisten anderen hatte ich nichts zu tun, ich warf sie auch nicht mit dem Stuhl um.
     
    Zu Ostern, als der Campingplatz für die Saison öffnete, kamen die ersten Urlauber. Die Wiese jenseits der Hänger und Container, die bis dahin frei gewesen war, füllte sich mit Wohnmobilen. Zum Zelten war es vorläufig noch nicht warm genug, doch mein Vater bekam jetzt tatsächlich etwas zu tun. Er wies die Stellplätze an, zeigte den Leuten die Duschen und wie sie ihre Wagen an den Strom anschließen konnten. Er stellte die Rechnungen, wenn sie wieder abfuhren. Die übrige Zeit, wenn er nicht auf dem Platz unterwegs war, verbrachte er in seinem Büro, wo er Papiere sortierte oder Zeitung las und wartete, bis irgendjemand ihn brauchte.
    Meine Mutter fing an, gegen Bezahlung Einkäufe zu machen. Morgens ging sie über den Platz und ließ sich von den
Nachbarn
, wie sie sie nannte, Listen geben, und dann fuhr sie mit dem Auto in die Stadt und ging zum Supermarkt, bevor sie mich von der Schule abholte. An anderen Tagen, wenn die Leute auf dem Platz spät dran waren mit ihren Bestellungen, fuhren wir zusammen zum Metro-Großmarkt. Dort schob ich den Wagen durch die langen Gänge, während meine Mutter die Zettel durchging. Für uns selbst kauften wir meistens Nudeln, Tomaten in Dosen, Cornflakes oder Honeyloops oder Schokopops. Und Milch, Würstchen, Senf und Brot. Dass wir keinen Backofen im Container hatten, fiel ihr manchmal erst wieder ein, nachdem sie die Sachen schon in den Wagen geräumt hatte. Wenn das passierte, hob sie tiefgefrorene Pizza, Pommes frites – oder was immer es war – hoch, um es mich sehen zu lassen, und legte die Packungen anderswo wieder ab, aus Wut darüber, dass wir nichts damit anfangen konnten.
    An einem Abend im Mai bat sie mich, einen Karton mit Lebensmitteln zu einem der Wagen zu bringen. «Ich hab schon geduscht und will nicht mehr raus heute», sagte sie. Mein Vater lag auf dem Bett, ich sah nur seine bloßen Füße auf der Tagesdecke.
    «Für wen ist der?», fragte ich.
    «Für Scholz», sagte sie. «Das ist der mit der Vogelscheuche.»
    Draußen roch es nach angebranntem Essen. Es war noch nicht dunkel, aber die Leute saßen schon in ihren Wagen. Manchmal hörte ich im Vorübergehen den Ton des Fernsehers durch die gekippten Fenster, oder ich sah das blaue Schimmern hinter den Gardinen. Ich konnte weder etwas verstehen noch erkennen, was lief, ich sah nur Umrisse in behäbig wechselndem Licht.
    Die Vogelscheuche bestand aus kreuzweise zusammengenagelten Latten, über dem Querbalken hing ein gestreiftes Sakko, und auf der Spitze steckte ein Kochtopf mit einem Loch im Boden. In der Nähe ragten krumme Stäbe aus dem Boden, an denen die Reste von Pflanzenstauden vertrockneten. Ich schaute mir das alles eine Weile an, bevor ich zur Tür ging und anklopfte. Eine Minute wartete ich, und als sich drinnen nichts rührte, klopfte ich noch mal fester und länger, doch es tat sich nichts.
    Wie unser Container hatte dieser Hänger eine Treppe vor der Tür, allerdings war er kleiner und sein Dach war gewölbt wie bei einem Eisenbahnwagen. An der Rückseite hatte er keine Fenster, dafür waren dort eine ganze Menge amerikanischer Nummernschilder festgeschraubt, und unter jedem Schild liefen zwei dunkelrote Rostschlieren nach unten. Breite Blätter eines Krauts, das ich nicht kannte, wucherten ihnen entgegen. Der Wagen musste schon ziemlich alt sein, aber er gefiel mir.
    Ich setzte mich auf die Treppe und stellte den Karton zwischen meinen Füßen ins Gras. Die erste Stufe war zerbrochen, beide Hälften
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