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Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Titel: Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Autoren: Eric Walz
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Bildhauerateliers nach ihren Kleidern, tastete sich an Gipsköpfen von Aristoteles, Medea und dem heiligen Eligius entlang, stieß sich am Flügel eines Adlers – der eher einer Krähe glich -, und fand, wonach sie suchte, im Schoße Papst Julius III.
    Sie zog sich die Kleider über, ohne darauf zu achten, wie sie saßen. Kleider interessierten sie nicht, und auch andere Menschen interessierten sich nicht für ihre Kleider. Manchmal fragte sie sich, was Männer an ihr fanden, denn sie hielt sich nicht für hübsch und trug keine schönen Sachen. Vielleicht lag es an der Art, wie sie mit ihnen sprach: frei heraus und ein bisschen unverfroren. Sie gab denen, die sie attraktiv fand, zu erkennen, wofür sie bereit war. Männer schätzten das. Männer schätzten, wenn man ihnen Mühe ersparte.
    Mittlerweile war es ein wenig heller geworden. Antonia sah, dass der Bildhauer erwacht war, und an seinen Augen erkannte sie, dass er dasselbe dachte wie sie. Sie hatten beide bekommen, wonach sie letzte Nacht gesucht hatten. Der Kuss, den sie ihm quasi im Vorbeigehen zuwarf, hatte etwas von einem äußerst flüchtigen Parfüm an sich.
    »Arrivederci«, sagte sie.
    »Arrivederci«, sagte er.
    Sie würden nie wieder beieinanderliegen.
     
    Antonia kam zur richtigen Zeit. Als sie den Dom betrat, war der Boden des Langhauses in frühgotische Düsternis getaucht, während oben jeden Moment die ersten Sonnenstrahlen auf die Fenster treffen würden. Noch waren sie tot, diese Fenster, denn wie die Menschen, so begannen auch sie erst zu erwachen, wenn helles Licht durch die Scheiben strömte und die Gesichter, die Leiden, Hoffnungen und Freuden wie tausend Juwelen schillern ließ. Wofür Antonia fast ein Jahr ihres Lebens gegeben hatte, würde in wenigen Augenblicken zu leben anfangen.
    Sie war fast allein. Ein einzelner Mönch kniete inmitten des Langhauses. Dumpf schloss sich die Pforte hinter ihr, der Mönch schreckte auf und wandte sich ihr zu: ein schmales Gesicht von nussbrauner Hautfarbe. Er sah sie an, zu lange, um gleichgültig zu wirken, doch das mochte Einbildung sein, denn gleich darauf vertiefte er sich wieder in seine Gebete, und Antonia blickte lediglich auf seine kreisrunde Tonsur auf dem Scheitel. Er hatte etwas an sich, das ihr seltsamerweise vertraut vorkam.
    Die Sonne ging über den östlichen Bergen auf, und binnen eines winzigen Moments war alles Farbe. Manche Nischen glänzten wie mit Purpur überzogen, in anderen schimmerte Grün; der gesamte Innenraum von Langhaus und Kuppel wurde von einem unvergleichlichen, tiefen Blau erfüllt. So überwältigend war die Wirkung dieses überirdischen, geheimnisvollen Lichts, dass Antonia vergaß, auf ihre Arbeit stolz zu sein.
    Nach oben blickend, durchschritt sie die Leere des Doms, vorbei an den Pfeilern und Skulpturen, vorbei auch an dem jungen Mönch. Sie fühlte seinen Blick, sie hörte das Rascheln seines Gewandes, als er sich erhob, doch sie wollte keinen Lidschlag des Wunders versäumen. Ja, für sie war es ein Wunder. Die einzelnen Bilder und Gestalten zählten in diesem Moment noch nicht, ebenso wenig die Details der handwerklichen Ausführung, die Strukturen und Schattierungen, Facetten und Blasen und Bleiruten, das Schwarzlot und das Silbergelb. Für kurze Zeit war sie weder Handwerkerin noch Künstlerin, sondern einfach ein Mensch, ehrfürchtig und atemlos angesichts dessen, was das Aufeinandertreffen von Licht und Glas, also von Gott und Materie, bewirkte.
    So sah das Licht der ersten Erdentage aus – diesen Gedanken, den sie erstmals als Kind hatte, als ihr Vater sie im Morgengrauen an der Hand in das Ulmer Münster führte, hatte sie nie vergessen. Hieronymus, ihr Vater, hatte die Fenster des Münsters entworfen, er hatte das Licht Gottes in die Kathedrale getragen. Dieser Tag war der unvergesslichste und schönste Tag ihres Lebens gewesen – und war gleichzeitig zum schlimmsten Tag geworden.
    Sie atmete tief durch und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Langsam, nachdem das Auge sich an die Farben gewöhnt hatte, traten die Motive der Fenster deutlicher hervor. Die ersten Bilder leuchteten auf: Blumen, Menschen, Flammen, Sonnen. Nach und nach entwirrten sich die Linien. Zunächst erzählte jedes Fenster seine eigene Geschichte, und dann erst, wenn man länger hinsah, vereinigten diese einzelnen Geschichten sich zu einem Ganzen. Das Licht wurde zum Buch.
    Jetzt wurde die Gesamtheit der Arbeiten sichtbar. Auf der einen Seite das Werk ihres Vaters,
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