Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
Ich stand da, und sie zog ihn um mich zu. Ich hörte, wie ihre Schritte sich entfernten, und stand weiter da. Eine Minute verging, dann zog ich meine Schuhe aus. Ich stellte sie ordentlich nebeneinander. Ich zog meine Socken aus und steckte sie in die Schuhe. Ich knöpfte mein Hemd auf und zog es aus; es gab einen Haken, also hängte ich es daran. Ich hörte Stühle kratzen und dann Gelächter. Plötzlich lag mir nichts mehr daran, gesehen zu werden. Gern hätte ich meine Schuhe geschnappt, wäre aus dem Zimmer geschlichen, die Treppe hinunter und weg von hier. Und doch. Ich öffnete den Reißverschluss meiner Hose. Dann kam mir ein Gedanke: Was hieß «nackt» eigentlich genau?
    Meinten sie wirklich ohne Unterwäsche? Ich überlegte. Was, wenn sie Unterwäsche erwarteten, und ich kam mit meinen schlenkernden Ihr-wisst-schon-was heraus? Ich griff nach der Anzeige in meiner Hosentasche. NACKTMODELL stand da. Sei nicht blöd, sagte ich mir. Das sind keine Amateure. Die Unterhose hing schon um die Knie, als die Schritte der Frau zurückkehrten. Kommen Sie klar da drin? Jemand öffnete ein Fenster, und ein Auto spritzte durch den Regen. Ja, ja, ich bin gleich so weit. Ich sah nach unten. Ein kleiner Schmierfleck. Meine Gedärme. Sie hören nie auf, mich zu erschrecken. Ich stieg aus meiner Unterhose und knüllte sie zu einem Ball.
    Ich dachte: Vielleicht bin ich am Ende doch hierher gekommen, um zu sterben. Stimmte es nicht, dass ich das Lagerhaus noch nie gesehen hatte? Vielleicht waren die hier das, was man Engel nennt. Natürlich, das Mädchen von draußen, wie hatte mir das entgehen können, sie war so blass gewesen. Ich stand reglos da. Fing an zu frieren. Ich dachte: So ist es, wenn der Tod dich holt. Nackt in einem verlassenen Lagerhaus. Morgen würde Bruno herunterkommen, an meine Tür klopfen, und niemand würde antworten. Verzeih mir, Bruno! Ich hätte gern adieu gesagt. Tut mir leid, dass ich dich mit den wenigen Seiten enttäuscht habe. Dann dachte ich: Mein Buch. Wer würde es finden? Würde es weggeworfen werden, zusammen mit meinen anderen Sachen? Obwohl ich glaubte, ich hätte es für mich selbst geschrieben, wünschte ich mir doch eigentlich, dass es jemand las.
    Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Wer würde meinen Körper waschen? Wer würde in Trauer das Kaddisch für mich sprechen? Ich dachte: Die Hände meiner Mutter. Ich zog den Vorhang auf. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich trat hinaus. Ins Licht blinzelnd, stand ich vor ihnen.
    Ich war nie ehrgeizig gewesen.
    Ich weinte zu leicht.
    Ich war kein Kopfmensch.
    Oft fehlten mir die Worte.
    Während andere beteten, bewegte ich nur die Lippen.
    Bitte.
    Die Frau, die mir gezeigt hatte, wo ich mich umziehen konnte, deutete auf den in Samt gehüllten Kasten.
    Stellen Sie sich dorthin.
    Ich ging über den Fußboden. Es waren etwa zwölf Leute, die auf den Stühlen saßen, mit Zeichenstiften in der Hand. Das Mädchen im langen Pullover war dabei.
    Wie es Ihnen am bequemsten ist.
    Ich wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Sie saßen im Kreis, irgendjemand musste sich mit meiner Hinteransicht abfinden, egal, wie ich mich drehte. Ich beschloss, so stehen zu bleiben. Ich ließ die Arme an den Seiten herabhängen und fixierte einen Punkt am Boden. Sie hoben ihre Stifte.
    Nichts geschah. Dafür spürte ich den Plüsch unter meinen Fußsohlen, spürte die Armhaare sich aufrichten, die Finger schwer werden wie zehn kleine, nach unten ziehende Gewichte. Spürte meinen Körper unter zehn Augenpaaren erwachen. Ich hob den Kopf.
    Versuchen Sie stillzuhalten , sagte die Frau.
    Ich starrte auf einen Riss im Betonboden. Hörte, wie die Stifte sich über das Papier bewegten. Ich wollte lächeln. Mein Körper fing schon an zu rebellieren, die Knie begannen zu zittern und die Rückenmuskeln wehzutun. Aber: Es kümmerte mich nicht. Wenn nötig, würde ich den ganzen Tag hier stehen. Fünfzehn, zwanzig Minuten vergingen. Dann sagte die Frau: Ich schlage vor, wir machen eine kurze Pause und setzen dann mit einer anderen Pose fort.
    Ich saß. Ich stand. Ich drehte mich um die eigene Achse, sodass diejenigen, die meine Hinteransicht noch nicht kannten, sie jetzt kennen lernten. Seiten wurden umgeblättert. So ging es wer weiß wie lange weiter. Einmal glaubte ich, ohnmächtig zu werden. Ich kreiste zwischen Fühlen und Benommenheit, Fühlen und Benommenheit. Meine Augen tränten vor Schmerz.
    Irgendwie bekam ich meine Kleider wieder an. Ich fand meine Unterhose
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher