Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
mir das Handwerk bei, und es wurde mein Beruf. Wir hatten zusammen einen kleinen Betrieb, doch eines Tages erkrankte er an Tb, die Leber musste ihm herausgeschnitten werden, er bekam über 40 Grad Fieber und starb, also übernahm ich. Ich schickte seiner Frau die Hälfte vom Gewinn, auch später noch, als sie einen Doktor geheiratet hatte und nach Bay Side gezogen war. Ich blieb über fünfzig Jahre im Geschäft. Es ist nicht das, was ich mir gewünscht hätte. Und doch. Die Wahrheit ist, dass es mir lieb geworden ist. Ich verschaffte denen Einlass, die ausgeschlossen waren, während ich anderen auszuschließen half, was nicht eingelassen werden durfte, damit sie albtraumfrei schlafen konnten.
    Dann, eines Tages, sah ich aus dem Fenster. Vielleicht in die Betrachtung des Himmels vertieft. Setz einen Toren ans Fenster, und es kommt ein Spinoza heraus. Der Nachmittag verging, Dunkelheit brach herein. Ich reckte mich nach der Strippe der Glühbirne, und plötzlich war es, als hätte mir ein Elefant aufs Herz getreten. Ich fiel auf die Knie. Ich dachte: Ewig habe ich nicht gelebt. Eine Minute verging. Noch eine Minute. Noch eine. Ich klammerte mich an den Fußboden, schleppte mich zum Telefon.
    Fünfundzwanzig Prozent meines Herzmuskels starben ab. Es dauerte, bis ich mich erholt hatte, und ich nahm meine Arbeit nie wieder auf. Ein Jahr verging. Ich spürte die Zeit um ihrer selbst willen zerrinnen. Ich starrte aus dem Fenster. Sah den Herbst Winter, den Winter Frühling werden. An manchen Tagen kam Bruno herunter und setzte sich zu mir. Wir kennen uns von ganz früher, als wir kleine Jungen waren; wir sind zusammen in die Schule gegangen. Er war einer meiner engsten Freunde, mit dicker Brille, rötlichen Haaren, die er hasste, und überschnappender Stimme, wenn er sich aufregte. Ich wusste nicht, dass er noch lebte, aber dann ging ich eines Tages den East Broadway entlang und hörte diese Stimme. Ich drehte mich um. Mit dem Rücken zu mir stand er vor einem Lebensmittelladen und fragte nach dem Preis irgendeiner Frucht. Ich dachte: Du hast sie nicht mehr alle, was bist du nur für ein Träumer, wie wahrscheinlich ist das – dein Sandkastenfreund? Wie angewurzelt stand ich auf dem Bürgersteig. Er ist unter der Erde, sagte ich mir. Und du, du bist hier, in den Vereinigten Staaten von Amerika, da ist McDonald’s, reiß dich zusammen. Ich wartete nur, um sicherzugehen. Sein Gesicht hätte ich nicht wiedererkannt. Aber: Sein Gang war unverkennbar. Er war schon fast an mir vorbei, da streckte ich den Arm aus. Ich wusste nicht mehr, was ich tat, vielleicht sah ich Gespenster, ich packte ihn am Ärmel. Bruno , sagte ich. Er blieb stehen und drehte sich um. Zuerst schien er erschrocken, dann verwirrt. Bruno . Er sah mich an, Tränen stiegen ihm in die Augen. Ich packte seine andere Hand, hielt einen Ärmel und eine Hand. Er fing an zu zittern. Strich mir über die Wange. Wir standen mitten auf dem Bürgersteig, Leute eilten vorbei, es war ein warmer Junitag. Sein Haar war dünn und weiß. Er ließ das Obst fallen. Bruno .
    Ein paar Jahre später starb seine Frau. Es wurde ihm zu viel, ohne sie in der Wohnung zu leben, alles erinnerte ihn, und als im Stockwerk über mir etwas frei wurde, zog er ein. Oft sitzen wir zusammen an meinem Küchentisch. Den ganzen Nachmittag manchmal, ohne ein Wort zu sagen. Und wenn, sprechen wir nie Jiddisch. Die Wörter unserer Kindheit sind uns fremd geworden – wir konnten sie so nicht mehr benutzen, also wollten wir sie lieber gar nicht mehr benutzen. Das Leben verlangte eine neue Sprache.
    Bruno, mein treuer alter Freund. Ich habe ihn nicht richtig beschrieben. Genügt es zu sagen, er sei unbeschreiblich? Nein. Lieber scheitern, als es gar nicht erst versuchen. Der weiche weiße Flaum, der deine Schädeldecke umspielt, wie eine halb abgeblasene Pusteblume. Oft war ich versucht, Bruno, auf deinen Kopf zu pusten und einen Wunsch zu tun. Nur ein letzter Rest Anstand hält mich davon ab. Aber vielleicht sollte ich mit deinem Wuchs anfangen, der sehr klein ist. An guten Tagen reichst du mir kaum bis an die Brust. Oder mit den Brillengläsern, die du aus einer Schachtel gefischt und zu deinen erklärt hast, riesige runde Dinger, die deine Augen weiten, als zeigten sie anhaltend 4,5 auf der Richterskala an. Das ist eine Frauenbrille, Bruno! Ich hatte nie den Mut, es dir zu sagen. Oft habe ich es versucht. Und noch etwas. In unserer Jugend warst du der bessere Schriftsteller. Ich war damals zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher