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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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stolz, es dir zu sagen. Aber: Ich wusste es. Glaub mir, wenn ich sage, ich wusste es damals wie heute. Der Gedanke quält mich, es nie gesagt zu haben, auch der, was alles aus dir hätte werden können. Verzeih mir, Bruno. Mein ältester, mein bester Freund. Ich war nicht fair. Du bist mir ein so treuer Begleiter am Ende meines Lebens. Du, ausgerechnet du, der du die Wörter für das alles hättest finden können.
    Einmal, vor langer Zeit, fand ich Bruno mitten im Wohnzimmer liegend, ein leeres Pillenfläschchen neben sich. Er hatte genug gehabt, wollte nur noch schlafen, in alle Ewigkeit. Auf seiner Brust klebte ein Zettel mit drei Wörtern: ADIEU, MEINE LIEBEN. Ich schrie auf. NEIN, BRUNO, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN ! Ich schlug ihm ins Gesicht. Schließlich flatterten die Augenlider hoch. Sein Blick war stumpf und leer. WACH AUF, DU DUMMKOPP! , rief ich. HÖR MIR JETZT ZU: DU MUSST AUFWACHEN Seine Augen klappten wieder zu. Ich wählte die 911, holte eine Schüssel kaltes Wasser und schüttete es über ihn. Ich legte das Ohr an sein Herz. Weit entfernt ein schwaches Rauschen. Der Krankenwagen kam. In der Klinik wurde ihm der Magen ausgepumpt. Warum haben Sie all die Pillen geschluckt?, fragte der Doktor. Bruno, krank, erschöpft, schlug kühl die Augen auf. WAS GLAUBEN SIE WOHL, WARUM ICH ALL DIE PILLEN GESCHLUCKT HABE?, brüllte er. Die ganze Wachstation war still; alles glotzte. Bruno drehte sich stöhnend zur Wand. An diesem Abend brachte ich ihn ins Bett. Bruno , sagte ich. Tut mir ja so leid, sagte er. So selbstsüchtig. Ich seufzte und wandte mich zum Gehen. Bleib bei mir!, schrie er.
    Wir sprachen nie mehr davon. Wie wir auch nie von unserer Kindheit sprachen, von den Träumen, die wir geteilt und verloren hatten, von allem, was geschehen und was nicht geschehen war. Einmal saßen wir schweigend zusammen. Plötzlich fing einer von uns an zu lachen. Es war ansteckend. Es gab keinen Grund, aber wir mussten kichern, und als Nächstes bogen wir uns auf den Stühlen und brüllten, brüllten vor Lachen, dass uns die Tränen über die Wangen strömten. Ein nasser Fleck erblühte in meinem Schoß, und wir lachten umso mehr, ich schlug mit den Fäusten auf den Tisch, rang nach Luft, dachte: Wenn ich abtrete, dann vielleicht so, in einem Lachanfall, was könnte besser sein, lachend und weinend, lachend und singend, lachend, um nicht zu vergessen, dass ich alleine bin, dass dies das Ende meines Lebens ist, dass draußen vor der Tür der Tod auf mich wartet.
    Als ich ein Junge war, schrieb ich leidenschaftlich gern. Es war das Einzige, was ich in meinem Leben tun wollte. Ich erfand Personen und füllte Notizbücher mit Geschichten aus ihrem Leben. Ich schrieb über einen Jungen, der heranwuchs und so behaart wurde, dass die Leute Jagd auf sein Fell machten. Er musste sich auf Bäumen verstecken und verliebte sich in einen Vogel, der ihn für einen Dreihundert-Pfund-Gorilla hielt. Ich schrieb über siamesische Zwillingsmädchen, von denen eines sich in mich verliebte. Ich glaubte, die Sexszenen wären einzigartig. Und doch. Als ich älter wurde, beschloss ich, ein wirklicher Schriftsteller zu werden. Ich versuchte, über wirkliche Dinge zu schreiben. Ich wollte die Welt beschreiben, weil es zu einsam war, in einer unbeschriebenen Welt zu leben. Ich schrieb drei Bücher, bevor ich einundzwanzig war, wer weiß, was mit ihnen geschehen ist. Das erste handelte von Slonim, der Stadt, in der ich lebte, wo mal Polen und mal Russland war. Für das Frontispiz zeichnete ich einen Plan, in den ich Häuser und Läden eintrug, hier war Kipnis, der Schlachter, und hier Grodzenski, der Schneider, hier lebte Fischl Schapiro, der entweder ein großer zaddik oder ein Idiot war, das wusste niemand so genau, und hier der Platz und das Feld, wo wir spielten, und hier die Stelle, wo der Fluss breiter, und hier die, wo er enger wurde, hier begann der Wald, und hier stand der Baum, an dem Beyla Asch sich aufhängte, und hier und hier. Und doch. Als ich es der einzigen Person in Slonim gab, an deren Meinung mir etwas lag, zuckte sie nur die Achseln und sagte, sie hätte es lieber, wenn ich mir Sachen ausdächte. Also schrieb ich ein zweites Buch und dachte mir alles aus. Ich füllte es mit Menschen, denen Flügel, und Bäumen, deren Wurzeln in den Himmel wuchsen, mit Leuten, die ihren eigenen Namen vergaßen, und Leuten, die nichts vergessen konnten; sogar eigene Wörter dachte ich mir aus. Als ich fertig war, rannte ich den ganzen
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