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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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nicht und war zu müde zum Suchen. Ans Geländer geklammert, schaffte ich es die Treppe hinunter. Die Frau lief mir nach, sagte: Warten Sie, Sie haben die fünfzehn Dollar vergessen . Ich nahm das Geld, und als ich es in die Tasche stecken wollte, fühlte ich dort das Knäuel der Unterhose. Danke . Das kam von Herzen. Ich war erschöpft. Aber glücklich.
    Ich möchte irgendwo festhalten: Ich habe versucht, nicht nachtragend zu sein. Und doch. Es gab Zeiten in meinem Leben, ganze Jahre, da hat die Wut mich untergekriegt. Hässlich kehrte ich mein Innerstes nach außen. In der Verbitterung fand ich eine gewisse Genugtuung. Ich machte ihr den Hof. Sie stand draußen, und ich lud sie ein. Ich blickte finster auf die Welt. Und finster blickte die Welt zurück. Erstarrt im Banne wechselseitigen Abscheus. Ich knallte den Leuten die Tür vor der Nase zu. Ich furzte, wann immer ich dazu Lust hatte. Ich beschuldigte Kassiererinnen, mich um einen Penny zu betrügen, während ich den Penny in der Hand hielt. Und dann, eines Tages, wurde mir bewusst, dass ich auf dem besten Weg war, einer von diesen Tauben vergiftenden schmocks zu werden. Die Leute wechselten die Straßenseite, wenn sie mir begegneten. Ich war ein menschliches Krebsgeschwür. Aber um ehrlich zu sein: Ich war nicht wirklich wütend. Nicht mehr. Ich hatte meine Wut vor langer Zeit irgendwo vergessen. Hatte sie auf einer Parkbank abgelegt und war weggegangen. Und doch. Es war so lange so gewesen, und ich wusste nicht, wie ich mich anders verhalten sollte. Eines Tages wachte ich auf und sagte mir: Es ist nicht zu spät . Die ersten Tage waren seltsam. Ich musste das Lächeln vor dem Spiegel üben. Aber es kam wieder. Es war, als wäre eine Last von mir genommen. Ich ließ los, und etwas ließ mich los. Ein paar Monate später fand ich Bruno.
    Als ich vom Zeichenkurs nach Hause kam, hing ein Zettel von Bruno an der Tür: WOO BIST DU? Ich war zu müde, die Treppe hinaufzusteigen, um ihm Bescheid zu sagen. Drinnen war es dunkel, und ich zog die Strippe der Glühbirne im Flur. Ich sah mich im Spiegel. Mein Haar, oder was davon übrig war, stand hinten ab wie ein Wellenkamm. Mein Gesicht wirkte verschrumpelt wie etwas, was zu lange draußen im Regen war.
    Ich fiel angezogen ins Bett, noch immer ohne Unterhose. Es war nach Mitternacht, als das Telefon klingelte. Ich erwachte aus einem Traum, in dem ich meinem Bruder Josef gezeigt hatte, wie man im hohen Bogen pinkelt. Manchmal habe ich Albträume. Das hier war keiner. Wir waren im Wald, froren uns in der Kälte den Hintern ab. Es dampfte aus dem Schnee. Josef drehte sich zu mir um, lächelnd. Ein schönes Kind, blond mit grauen Augen. Grau wie das Meer an einem sonnenlosen Tag, oder wie der Elefant, den ich in der Stadt auf dem Platz gesehen hatte, als ich in Josefs Alter war. Klar und deutlich hatte er da gestanden, im staubigen Sonnenlicht. Später konnte sich niemand erinnern, ihn gesehen zu haben, und weil unmöglich zu verstehen war, wie ein Elefant nach Slonim gekommen sein sollte, glaubte mir niemand. Aber ich habe ihn gesehen.
    In der Ferne ertönte eine Sirene. Mein Bruder machte gerade den Mund auf, um etwas zu sagen, da riss der Traum ab, und ich erwachte im stockdunklen Schlafzimmer, während der Regen an die Scheibe platschte. Das Telefon klingelte weiter. Bruno, zweifelsohne. Ich wäre nicht drangegangen, wenn ich nicht befürchtet hätte, er würde die Polizei rufen. Warum klopfte er nicht einfach mit dem Spazierstock an die Heizung wie sonst immer? Dreimal klopfen bedeutet LEBST DU NOCH?, zweimal bedeutet JA, einmal NEIN. Wir machen das nur nachts, tagsüber gibt es zu viele andere Geräusche, und narrensicher ist es sowieso nicht, da Bruno gewöhnlich mit dem Walkman auf den Ohren einschläft.
    Ich schlug die Decke zurück und stolperte, gegen ein Tischbein stoßend, zum Telefon. HALLO?, rief ich in den Hörer, aber die Leitung war tot. Ich legte auf, ging in die Küche und nahm ein Glas oben aus dem Schrank. Das Wasser gluckerte in der Leitung und spritzte im Schwall heraus. Ich nahm einen Zug, dann fiel mir meine Pflanze ein. Ich habe sie schon fast zehn Jahre. Sie ist kaum noch am Leben, aber immerhin. Eher braun als grün. Viel Verdorrtes dran. Dennoch überlebt sie, immer nach links geneigt. Auch wenn ich sie so herumdrehe, dass die Sonnenseite nicht mehr die Sonnenseite ist, neigt sie sich weiter stur nach links, entscheidet sich gegen das physische Bedürfnis und für den kreativen Akt. Ich
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