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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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gab es mir dann kommentarlos zurück. Eines Nachmittags kam ich mit Ulysses aus der Bücherei. Am nächsten Morgen saß ich auf dem Klo, als von oben STATTLICH UND FEIST ERSCHIEN BUCK MULLIGAN ertönte. Einen ganzen Monat hörte er das ununterbrochen. Er gewöhnte sich an, die Stopptaste zu drücken und zurückzuspulen, wenn er etwas nicht genau verstanden hatte. UNERWEICHLICHE MODALITÄT DES SICHTBAREN: ZUM MINDESTEN DIES. Pause, Spulen. UNAUSWEICHLICHE MODALITÄT DES . Pause, Spulen. UNAUSWEICHLICHE MODALITÄT . Pause. UNAUSWEICH . Als die Rückgabe fällig wurde, wollte er verlängern. Aber da hatte ich es satt mit seinem ewigen Stopp und Start, also ging ich zu The Wiz und kaufte ihm einen Sony Sportsman, und jetzt schleppt er ihn an den Gürtel geklemmt mit sich herum. Wahrscheinlich liebt er einfach den Klang des irischen Akzents.
    Ich beschäftigte mich, indem ich mich in den Regalen des Mannes umtat. Aus Gewohnheit sah ich nach, ob etwas von meinem Sohn Isaac dabei war. Tatsächlich. Und nicht nur eins, sondern vier Bücher. Ich fuhr mit dem Finger die Rücken entlang. Bei Glashäuser hielt ich inne und nahm es aus dem Regal. Ein schönes Buch. Erzählungen. Ich habe sie wer weiß wie oft gelesen. Da ist eine – die Titelgeschichte. Meine Lieblingsgeschichte, was nicht heißen soll, dass ich sie nicht alle liebe. Aber diese steht allein da. Nicht allein, sondern für sich. Sie ist kurz, aber jedes Mal, wenn ich sie lese, muss ich weinen. Es geht um einen Engel, der in der Ludlow Street wohnt. Nicht weit von mir, gleich jenseits der Delancey. Er lebt dort schon so lange, dass er sich nicht erinnern kann, warum Gott ihn auf die Erde versetzt hat. Jede Nacht spricht er laut zu Ihm, und jeden Tag wartet er auf ein Wort von Ihm. Zum Zeitvertreib geht er durch die Stadt. Am Anfang hat er noch die Gewohnheit, alles zu bewundern. Er legt sich eine Sammlung Kieselsteine zu. Bringt sich höhere Mathematik bei. Und doch. Mit jedem Tag, der vergeht, blendet ihn die Schönheit der Welt etwas weniger. Nachts liegt der Engel wach und lauscht den Schritten der Witwe, die über ihm wohnt, und jeden Morgen geht er auf der Treppe an dem alten Mann vorbei, Mr.   Grossmark, der seine Tage damit zubringt, sich, Wer ist da? murmelnd, treppauf, treppab zu schleppen. Soviel der Engel weiß, ist das alles, was er jemals sagt, bis auf das eine Mal, als er sich bei der Begegnung auf der Treppe unversehens zu ihm umdreht und sagt: Wer bin ich? , was den Engel, der nie spricht und mit dem nie gesprochen wird, so entsetzt, dass er nichts sagt, nicht einmal: Du bist Grossmark, der Mensch. Je mehr Traurigkeit er sieht, umso mehr wendet sich sein Herz gegen Gott. Er fängt an, nachts durch die Straßen zu streunen, bleibt bei jedem stehen, der aussieht, als brauche er sein Ohr. Was er da für Sachen hört – es wird ihm zu viel. Er kann es nicht begreifen. Wenn er Gott fragt, warum Er ihn so nutzlos gemacht habe, bricht seine Engelsstimme, so sehr ringt er mit Tränen des Zorns. Schließlich hört er ganz auf, mit Gott zu reden. Eines Nachts trifft er unter einer Brücke einen Mann. Sie teilen den Wodka, den der Mann in einer braunen Tüte hat. Und weil der Engel betrunken ist, weil er einsam ist und wütend auf Gott und weil er, ohne es auch nur zu wissen, das unter Menschen übliche Bedürfnis empfindet, sich jemandem anzuvertrauen, erzählt er dem Mann die Wahrheit: dass er ein Engel sei. Der Mann glaubt ihm nicht, aber er besteht darauf. Der Mann fragt, ob er es beweisen könne, und so hebt der Engel trotz der Kälte sein Hemd und zeigt ihm den vollkommenen Kreis auf seiner Brust, der das Engelszeichen ist. Aber dem Mann, der von Engelszeichen keine Ahnung hat, bedeutet das nichts, und so sagt er: Zeig mir etwas, was Gott machen kann , worauf der Engel, naiv wie alle Engel, auf den Mann deutet. Und weil der glaubt, der Engel lüge, boxt er ihm in den Magen, sodass er rückwärts vom Steg taumelt und in den schwarzen Fluss fällt. Wo er ertrinkt, denn eins hat es mit den Engeln auf sich: Sie können nicht schwimmen.
    Allein in dem Raum voller Bücher, hielt ich das Buch meines Sohnes in der Hand. Es war mitten in der Nacht. Nach Mitternacht. Ich dachte: Armer Bruno. Inzwischen hat er sicher schon im Leichenschauhaus angerufen, um sich zu erkundigen, ob nicht zufällig ein alter Mann abgeliefert worden sei, in dessen Geldbörse sich eine Karteikarte mit dem Vermerk befinde: ICH HEISSE LEO GURSKY ICH HABE KEINE FAMILIE BITTE DEN
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