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Die Geliebte des Malers

Die Geliebte des Malers

Titel: Die Geliebte des Malers
Autoren: Nora Roberts
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ausgestreckte gleiten. Erst dann drehte sie sich leicht und warf den ersten Blick auf das Bild.
    Mindestens hundertmal hatte sie versucht, es sich vorzustellen, doch während sie es jetzt betrachtete, wurde ihr schlagartig klar, dass es nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihren Ideen hatte. Der Hintergrund war dunkel und voller Schattierungen, spiegelte Tiefe und Schatten wider. Mitten in diesen Schatten stand sie, wie im Rampenlicht, in dem hellen austerngrauen Seidenkleid. Die Veilchen bildeten einen erstaunlichen Farbtupfer, der die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf die Zartheit ihrer Hände lenkte. Ihre Haltung und wie sie den Kopf leicht neigte, das strahlte Stolz aus. Ihre wilde Mähne, ungebändigt und frei, bildete einen außergewöhnlichen Kontrast zu der stillen, dezenten Farbe des Kleides. Es war ihr Haar, mit dem sie Leidenschaft versprach. In ihren Gesichtszügen war eine Feinheit zu erkennen, die sie bisher nie an sich bemerkt hatte: eine Verletzlichkeit, die mit der Kraft und Stärke der ausgeprägten Züge wetteiferte. Also hatte sie recht gehabt: Er sah sie mit ganz anderen Augen, als sie selbst sich jemals gesehen hatte.
    Ihre Lippen waren leicht geöffnet, so als wolle sie lächeln, warte jedoch noch ein wenig. Es würde ein Lächeln sein, mit dem sie den Geliebten willkommen hieße. Die Gewissheit lag in ihrer Haltung, strahlte aus ihr heraus zusammen mit der Vorfreude auf etwas, das in naher Zukunft kommen würde. Die Augen allerdings drückten alles aus. Es waren die Augen einer Frau, die von der Liebe erfüllt war … Augen einer Unschuld, die sich ergeben wollte. Niemand, der dieses Bild anschaute, würde nicht sofort erkennen, dass die Frau auf dem Gemälde den Mann, der es gemalt hatte, liebte.
    »So schweigsam, Cass?«, murmelte Colin und legte den Arm um ihre Schultern.
    »Ich finde keine Worte, um es zu beschreiben«, erwiderte sie flüsternd und holte zitternd Luft. »Worte reichen nicht aus, und alles andere wären Plattitüden.« Sie lehnte sich für einen Moment an ihn. »Colin.« Cassidy versuchte zu vergessen, dass die Augen auf dem Gemälde erfüllt von unverhohlener Liebe waren. Sie wollte nur das Ganze sehen und ausklammern, dass es ihre Gefühle offenbarte. Geheimnisse, hatte er damals gesagt. Träume.
    Colin küsste sie auf die Haut, die das hochgeschlossene Kleid am Hals freiließ, dann ließ er Cassidy los. »Nur selten geschieht es einem Künstler, dass er von seinem Werk zurücktritt und überrascht ist, dass es seinen Händen tatsächlich gelungen sein soll, etwas so Einzigartiges zu erschaffen.« Sie konnte die Aufregung in seiner Stimme hören, eine ehrfürchtige Verwunderung, von der sie nicht vermutet hätte, dass er sie fühlen könnte. »Das ist das Großartigste, was ich je geschaffen habe.« Mit diesen Worten drehte er sich zu ihr um. »Ich bin dir unendlich dankbar, Cassidy. Du bist die Seele dieses Werks.«
    Sie ertrug seine Worte nicht, sie musste sich abwenden. Verzweifelt klammerte sie sich an die letzten Reste ihres Stolzes und mühte sich mit übermenschlicher Anstrengung, ihre Stimme ruhig und gelassen klingen zu lassen. »Ich war eigentlich immer der Ansicht, dass der Künstler die Seele seines Werkes ist.« Sie legte den Veilchenstrauß auf dem Arbeitstisch ab und begann im Zimmer umherzugehen. Die Seide des Kleides raschelte bei jedem ihrer Schritte leise um ihre Beine. »Es ist deine … deine Vorstellungskraft, dein Talent. Wie viel von mir liegt denn tatsächlich in diesem Bild?«
    Für einen langen Moment blieb es still, aber Cassidy drehte sich dennoch nicht zu Colin um.
    »Weißt du das denn nicht?«
    Cassidy befeuchtete die trockenen Lippen und kämpfte um ihre Selbstbeherrschung, bevor sie sich umwandte. »Mein Gesicht«, stimmte sie zu, sah an sich herunter und fügte hinzu: »Und mein Körper. Alles andere ist dein Werk, Colin. Das ist nicht mein Verdienst. Du hast die Stimmung kreiert. Du hast auf die Leinwand gebannt, was du in mir gesehen hast. Du hattest die Vision. Du hast mich gebeten, einen Wunsch zu verkörpern, und das hast du daraus gemacht. Es ist deine Illusion.« Die Worte auszusprechen bereitete ihr mehr Schmerz, als sie je für möglich gehalten hätte. Und trotzdem hatte sie das Gefühl, dass sie gesagt werden mussten.
    »So siehst du das also?« Colin musterte sie fragend, doch Cassidy spürte den Ärger, der unter der harmlosen Oberfläche schwelte. »Du hast Modell gestanden, und ich habe alle Fäden in der Hand
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