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Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition)

Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition)

Titel: Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition)
Autoren: Susanne Pilastro
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Gemüse, Nudeln, Reis, Eier... Es sah alles so einladend aus, dass ich
meinen Appetit, den ich auf der langen Reise verloren hatte, rasch wiederfand.
    Cheng-Si aß mit uns und es herrschte eine
ausgelassene Stimmung. Allerdings war ich zu schüchtern, um etwas zu sagen und
zog es vor, schweigend zu essen. Die momentane Aufmerksamkeit lag ohnehin auf
Su-Ling, die sich, angesichts ihrer verschlafenen Augen, den liebevollen Spott
der anderen gefallen lassen musste.
    „Warst du wieder bei Unserem Kaiser ?“,
lachten sie, doch Su-Ling grinste nur, während sie sich ein Stück Fisch in den
Mund steckte.
     
    Das Frühstück zog sich über mehrere Stunden hin.
Nach dem Essen zerstreute sich die Runde sehr schnell. Nachdem sich dieses
Ritual etwa zwölf Mal wiederholte hatte, erkannte ich, dass das morgendliche
Zusammensitzen die einzige gesellschaftliche Verpflichtung zu sein schien und
das jede den restlichen Tag auf ihre Weise verbrachte.
    In der ersten Zeit nahm sich Shinlan meiner an.
    Sie saß gerne am Rande des Gartens, direkt am Haus
der Frauen . Vom Gemeinschaftsraum ging es auf eine Holzveranda, von der aus
man einen Überblick über den Garten hatte. Shinlan hatte ihren angestammten
Platz, an dem auch ein Korb mit Stoffen lag. Sie hatte ihre Freude daran,
Kleider für sämtliche Kinder der kaiserlichen Familie herzustellen; und da
immer wieder neue geboren wurden, mussten auch immer neue Kleider gefertigt
werden.
    „Kannst du nähen?“, fragte sie mich und ich
nickte. „Setz dich zu mir und leiste mir ein wenig Gesellschaft“, bat sie.
    Ich kniete mich zu ihr hinunter und machte es mir
neben ihr bequem. Dann griff ich nach der Nadel, die Shinlan mir entgegen
streckte.
    „Hier hast du ein wenig Stoff“, bot sie mir an.
„Mach daraus, was dir gefällt.“
    So gut ich es von Mutter gelernt hatte, machte ich
mich ans Werk; viel Übung hatte ich allerdings nicht.
    Wir saßen eine Weile nebeneinander, nähten und
schauten ab und an in den Garten.
    Ich genoss es, an der frischen Luft zu sein. Nach
einer Weile war mir allerdings nach etwas Bewegung. „Wollen wir ein wenig
spazieren gehen?“, schlug ich vor.
    Shinlan sah mich an, überlegte und nickte. „Gut,
ich werde die Träger rufen.“
    „Die Träger?“, fragte ich erstaunt. „Wozu?“
    Shinlan blickte mich entgeistert an. „Wozu?“,
fragte sie verwundert. „Willst du etwa laufen ?“ Dann schien ihr etwas
einzufallen; sie hob ihren Rock leicht an und gab den Blick auf ihre Füße
preis.
    „Oh“, entfuhr es mir. Ich kannte den Anblick von
derart verunstalteten Füßen, aber ich vergaß immer wieder, wie grausam es
aussah. Zumal Mutter mir gesagt hatte, man würde dies erst seit wenigen Jahren
praktizieren. Ich hatte nicht vermutet, dass eine ältere Frau wie Shinlan
ebenfalls diese Art von Fuß trug. Meine eigenen Eltern hatten mich vor der
Tortur des Bindens verschont und ich hoffte, dass mir das auch in Zukunft
erspart bliebe.
    Entsetzt starrte ich auf die offensichtlich
gebrochenen Füße von Shinlan. Sie bemerkte es und wurde ein wenig verlegen.
    „Hat es...“, stammelte ich, doch es verließ mich
mitten im Satz der Mut, die Frage zu Ende zu führen.
    „... weh getan? Ich kann mich nicht erinnern“,
sagte Shinlan.
    „Warum wird das gemacht?“ Das hatte mich schon
immer interessiert. Im Hause meines Vaters wurde das Abbinden nicht praktiziert
und ich hatte diese Art von Fuß nur an den Töchtern anderer gesehen. Aber über
Schmerzen hatten wir nie gesprochen. Da es mir viel zu sehr gefiel, mich frei
zu bewegen und ich das Toben im Freien genoss, waren meine Spielgefährten
ausschließlich die Mädchen unseres Haushaltes gewesen – die alle, wie ich,
normale Füße hatten. Die Frauen hier waren praktisch die ersten, die ich aus
nächster Nähe ansehen konnte.
    Shinlan dachte noch immer über die Frage nach, warum es Lotusfüße gab. „Shenzongs Ahne Zhenzong fand Gefallen daran, soweit ich
weiß“, erklärte sie schließlich. „Vor seiner Zeit war es noch üblich, die Füße
fest zu verschnüren, so dass sie am Wachstum gehemmt wurden; aber man konnte so
nicht verhindern, dass die Füße der Mädchen größer wurden. Irgendwann kam man
auf die Idee, den Fuß zu brechen…“
    Ich keuchte vor Entsetzen.
    „…und seitdem wird es so gemacht – bis heute. Du
wirst hier wenige Frauen finden, die große Füße haben. Ich glaube sogar, du
bist – neben Cheng-Si – die Einzige!“
    Ob mir diese Tortur in den Palasthallen auch
drohen
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