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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde
Autoren: Luanne Rice
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verhindern, dass er wieder auf die Beine kam und sich an Willa rächte. Deshalb stieß sie die leblose Gestalt an – zuerst mit ihrer Waffe, dann mit dem Fuß. Als keine Reaktion kam, trat sie näher heran, um einen Blick auf sein Gesicht zu werfen.
    Caleb Jenkins.
    Seine Brust hob und senkte sich, schäumende Blutblasen quollen aus Mund und Nase. Sie hatte ihn nie aus der Nähe gesehen, aber sie wusste, dass er es sein musste. Er war das Ebenbild seines Vaters, nur wesentlich jünger – um die zwanzig. Kate hielt sich nicht lange mit Bedauern oder Zweifeln auf. Sie half ihrer Schwester auf die Beine, um zu sehen, ob sie stehen konnte, wenn sie die Arme um Kates Hals schlang.
    »Jetzt kommen keine Treppen mehr«, sagte Kate, als eine frische Meeresbrise durch die geöffnete Tür wehte, ihre Sinne schärfte. »Halt dich fest, ich bringe dich zum Wagen.«
    »Vielleicht kann ich alleine gehen.«
    »Später.« Kate warf einen letzten Blick auf den jungen Mann, der immer noch reglos auf dem Boden lag. »Wir müssen hier raus, bevor er aufwacht.«
    Sie nahm ihre Schwester wieder auf die Arme – sie zitterten vor Anstrengung wie Espenlaub –, drückte sie an sich und rannte zum Wagen des Richters.
    Das Fahrzeug, weiß schimmernd mit jedem Aufblitzen des Leuchtfeuers, das darüber glitt – und im silbernen Licht des Mondes, der, nachdem sich die Sturmwolken verzogen hatten, wie eine riesige Scheibe über dem Meer sichtbar war –, stand noch unangetastet am Anfang des Feldweges. Kate wurde erst langsamer, als sie an den mit Schlaglöchern und Steinen übersäten Abschnitt des Weges gelangte, setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen, ihre Schwester auf den Armen.
    Am Wagen des Richters angekommen, blickte sie sich um – von Caleb Jenkins keine Spur. Willa stand auf ihren eigenen Füßen, machte die ersten schmerzhaften Schritte vielleicht seit Monaten, als Kate sie um die Motorhaube herum zum Beifahrersitz führte. Sie öffnete die Tür, half ihrer Schwester hinein. Dann rannte sie auf die andere Seite, um ebenfalls einzusteigen.
    Erst jetzt fiel ihr Blick auf Calebs Lieferwagen, der am Wegrand stand; sie überlegte fieberhaft. Was war, wenn er zu sich kam, ihr nachfuhr und sie einholte, bevor sie am East Wind vorbei zur Hauptstraße gelangte? Tief Luft holend, rannte sie zu dem weißen Chevy-Lieferwagen mit der Aufschrift »Jenkins Construction« an der Seite.
    »Katy!«, hörte sie Willa rufen. »Beeil dich – lass mich nicht alleine hier drinnen. Wir müssen weg!«
    »Ich weiß!«, rief sie zurück. Sie öffnete die Tür des Lieferwagens.
    Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Sie zog ihn ab, wollte sich gerade umdrehen und loslaufen. Doch in dem Moment fiel ihr Blick auf zwei Gegenstände, die auf dem Vordersitz lagen und ihre Aufmerksamkeit fesselten. Eine goldene Halskette, an der ein Medaillon hing mit den ineinander verschlungenen Initialen » AM «: Amanda Martin.
    Und ein Dokument, das umfangreich und offiziell aussah. In Pergament gebunden, wie einer von Kates Forschungsberichten für die Akademie. Wissenschaftlich, umfassend, teuer. Sie beugte sich vor, um zu sehen, was auf der Titelseite stand:
    ANALYSE VON GEWALTVERBRECHERN
    Gutachten über Gregory Merrill
    Von Dr. Philip A. Beckwith, M. D.
    Sich wundernd, wie Caleb in den Besitz eines psychiatrischen Gutachtens gelangt sein mochte, schnappte sich Kate die Arbeit und sprang aus dem Lieferwagen, den Schlüsselbund in der Hand.
    Dann stieg sie in das Auto des Richters, ließ den Motor an, lächelte ihrer Schwester zu und fuhr rückwärts aus dem unbefestigten Parkbereich.
    »Wir haben es geschafft«, sagte Kate. »Endlich habe ich dich gefunden …«
    »Schneller, Kate«, schrie Willa, schlug die Hände vors Gesicht und weinte, als hätte sie noch nicht richtig begriffen, dass sie frei war, saß zusammengekauert auf dem Sitz, als wollte sie sich verkriechen, weil sie nicht mehr an die Weite der Welt gewöhnt war. »Er muss jeden Moment kommen!«
    Kate fuhr weiter, sah ständig in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass Caleb ihnen nicht folgte. »Wer?«, fragte sie entgeistert.
    »Der da hinten … hat mich nur versorgt, mir das Essen gebracht … mir gesagt, wie spät es ist. Aber der andere … oh, Kate, fahr schneller … er kommt immer um neun …«

[home]
    28
    J ohn fuhr, so schnell er konnte, zum Leuchtturm. Dr. Beckwith saß neben ihm, seine Stimme klang bestürzt und verwirrt – und John war ebenso erschüttert,
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