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Die geheime Reise der Mariposa

Die geheime Reise der Mariposa

Titel: Die geheime Reise der Mariposa
Autoren: Antonia Michaelis
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Kinder aus dem Wald. Kann es … kann es sein, dass es kein deutsches Militär ist, das wir auf dieser gottverdammten Insel gefunden haben, sondern etwas ganz anderes?«
    Lindsey antwortete nicht. Er holte ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah plötzlich alt aus. Ben stand auf.
    »Mit Verlaub, Sir, ich …«, sagte er. Und dann rannte auch er den Weg hinauf, auf die kleine Gruppe von Leuten zu. Er musste etwas tun, irgendetwas. Er war an allem schuld. Vielleicht würden sie ihn erschießen, wenn er dort oben ankam. Er hatte nichts dagegen. Wenn der Junge tot war, sollten sie ihn ruhig erschießen. Er wusste, dass der Gedanke pathetisch war.
    Als er bei ihnen ankam, griff niemand zur Waffe. Sie starrten ihn schweigend an, sechs Paar Augen, zu erstarrt, um irgendetwas zu tun. Fernandez hielt seinen Sohn im Arm. Seine Hände waren voller Blut.
    Und auf einmal wusste Ben, was er tun musste. Was das einzig Richtige war. Er beugte sich über José und zerriss mit beiden Händen sein Hemd. Auch daran hinderte ihn niemand. Der Junge, der neben ihm kniete – oder war es ein Mädchen? –, sagte nur immer wieder: »Er war ein Held. Ein Held. Er war ein Held«, wie eine hängen gebliebene Langspielplatte.
    Ben wischte mit dem Hemd das Blut von der Haut des Jungen, wischte und wischte wie ein Wahnsinniger und suchte die Einschusswunde. Er fand sie und presste den feuchten Stoff darauf, um die Blutung zu stillen. Als er aufsah, traf sein Blick den der Frau mit den Männerkleidern. Sie griff das Mädchen bei den Schultern und schüttelte es.
    »Er war ein Held«, sagte das Mädchen, ihre Augen fest auf das Gesicht des leblosen Jungen gerichtet. »Er war …«
    »Jetzt hat es ein Ende mit dem Heldsein«, sagte die Frau. Und dann gab sie dem Jungen eine Ohrfeige. »Mach die Augen auf«, sagte sie. »Die Kugel steckt in deiner Schulter. Es blutet, aber es wird aufhören zu bluten. Du stirbst nicht. Hier wird nicht mehr gestorben. Es reicht.«
    Als die Sonne an diesem Tag unterging, saß Marit in zu großen, aber sauberen Kleidern auf den Stufen der Veranda und dachte daran, wie sie in ebenfalls zu großen Kleidern auf der Treppe gesessen hatte, die zur Kajüte der Mariposa hinunterführte.
    Damals waren es Casafloras Kleider gewesen, jetzt waren es die Kleider ihres Vaters. Früher hatten die Kleider ihres Vaters nach Kreide gerochen und nach dem Schimmel, der sich gern in alten Büchern festsetzte. Damals, als er noch Lehrer gewesen war. Ehe er Soldat geworden und mit einem Flugzeug über Frankreich abgestürzt und gestorben war. Ehe er sich in einem Holzschuppen in einen Geist verwandelt hatte und auf einer grünen Insel wieder begonnen hatte zu leben. Jetzt, in diesem neuen Leben, rochen seine Kleider nach Erde und nach Hühnermist, nach Orangen, nach Sonne und nach dem Saft frischer grüner Pflanzen.
    Vielleicht war es nicht nur ein neues Leben, vielleicht war er ein ganz neuer Vater und Mama eine ganz neue Mama und Julia eine neue Julia.
    Und ich?, dachte Marit.
    »Worüber denkst du nach?«, fragte José, der neben ihr auf den Stufen saß.
    »Darüber, ob ich jemand anders geworden bin«, antwortete Marit. »Hier, auf den Inseln.«
    »Nein«, sagte José und schüttelte den Kopf. Seine Schulter war so dick verbunden, dass er sich kaum rühren konnte, und Marit wusste, dass er Schmerzen hatte, obwohl er nicht darüber sprach. »Nein, du wirst immer dieselbe unvernünftige alte Schwester bleiben.«
    Hinter ihnen am Verandatisch waren die letzten komplizierten Erklärungen verebbt wie die Wellen eines pazifischen Sturms. Es hatte den ganzen Nachmittag und einen Gutteil des Abends gedauert. Aber inzwischen war selbst Jeff Lindsey nicht mehr der Überzeugung, das kleine Haus unter der Bougainvillea wäre eine verborgene deutsche Funkstation, die deutsche U-Boote über die Bewegungen amerikanischer Patrouillenschiffe informierte. Mama hatte ihnen allen ein Abendessen aus Maisfladen und Hühnerfleisch vorgesetzt, denn viel mehr gab es noch nicht auf der Farm, doch sie waren alle dankbar dafür gewesen. Jetzt saßen die Männer schweigend am Tisch und rauchten Zigaretten, die die Amerikaner mitgebracht hatten. Marit zog die Nase kraus.
    »José«, sagte Josés Vater.
    José drehte sich um. Sein Vater hielt ihm eine Zigarette entgegen.
    »Du wolltest immer ein Mann sein«, sagte er. »Nach allem, was du in den letzten Wochen offenbar erlebt hast … Ich schätze, du bist tatsächlich kein Kind mehr.
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