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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen
Autoren: Lisa Gardner
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weigerte sich, das Schlafzimmer zu verlassen. Also ging Sheriff Wayne nach oben, um ihn zu holen. Sie brüllten einander an. Dann sah mein Vater seine Pistole auf dem Nachttisch liegen. Er nahm sie und wollte gerade auf Sheriff Wayne anlegen, als sich meine Mutter zwischen die beiden stellte. Sie traf der Schuss, der für ihren Geliebten bestimmt war, und sie sackte tot zu Boden.»
    Weitere Bilder tauchten vor mir auf, bewegte Bilder wie aus einem alten Film, der in meinem Elternhaus gedreht worden war. Hatte ich in jener Nacht mein Zimmer verlassen und mehr gesehen, als ich gesehen zu haben glaubte? Woher kamen diese Bilder? Wieder spürte ich den warmen Hauch im Gesicht, sah uns wieder zusammen – meine Mutter, Natalie und Johnny. Vier gegen einen. So wie es damals in jener Nacht vor fünfundzwanzig Jahren hätte sein sollen.
    «Mein Dad war wie erstarrt», flüsterte ich jetzt. «Und Sheriff Wayne nutzte die Gelegenheit und lief raus. Er lief zu seinem Wagen, der vorm Haus stand. Im Handschuhfach lag seine Dienstpistole. Seine Hände werden gezittert haben, und es dauerte bestimmt eine Weile, bis er die Schlüssel gefunden und die Wagentür geöffnet hatte. Er nahm seine Neun-Millimeter-Waffe, prüfte das Magazin.»
    Weitere Bilder, wie von einem sechsten Sinn in Erinnerung gebracht.
    «Während er draußen war, steckte Natalie den Kopf zur Tür heraus. Johnny rannte zur Treppe, und mein Vater kam auf mein Zimmer zu.»
    Wieder regte sich die Luft. Heiß und kalt. Hell und dunkel. Erfrischend.
    «Sheriff Wayne hat mir das Leben gerettet», sagte ich laut. «Er schoss meinen Vater nieder und trug mich aus dem Haus. Dann rief er seine Kollegen. Was ihn zu uns geführt hatte, verschwieg er. Warum hätte er auch seiner Familie sein kleines Geheimnis zumuten sollen, jetzt, da meine Familie tot war? Als zuständiger Beamter war es ihm ein Leichtes, das Massaker einzig und allein meinem Vater zuzuschreiben.
    Sheriff Wayne offenbarte sich erst auf dem Totenbett – seinem Sohn. Und das hat Sie, Andrew, veranlasst, mich aufzusuchen, nicht wahr? Um dafür zu sorgen, dass ich mich meiner Vergangenheit stelle?»
    Ich erwartete eine Reaktion auf die Nennung seines Namens, konnte aber seine Miene nicht lesen. Er war undurchschaubar.
    Evans Stimme meldete sich aus dem Kleiderschrank. Er bat den letzten Engel zu sich und appellierte an das Licht.
    «Sie hätten niemanden zu töten brauchen», sagte ich. «Die Seele Ihres Vaters wurde in dem Moment befreit, als er sein Geständnis ablegte. Sie war nicht in der Hölle gefangen.
Mein
Vater aber …»
    Andrew knurrte. Er ahnte jetzt, dass ich Bescheid wusste, und hob das Messer.
    Ich klammerte meine Finger um den Griff der Pistole, die ich im Badezimmer gefunden hatte. Mit der Erinnerung an die ins Klo geschüttete Asche meines Vaters und seiner alten, mit Klebestreifen hinterm Toilettensitz befestigten Dienstpistole hatte ich in den letzten Sekunden das Puzzle restlos zusammengesetzt.
    Andrew kam auf mich zu.
    Und ich hatte meinen Vater aus seinen Augen auf mich blicken sehen.
    Meine Mutter hatte immer nach Orangen und Ingwer geduftet. An heißen Tagen gab sie mir Erdbeereis, und wenn ich krank war, saß sie an meinem Bett. Sie lachte über die Comics in der Sonntagszeitung und blätterte gern in der
Vogue
, um davon zu schwärmen, sich irgendwann einmal eines der teuren Modelle leisten zu können.
    Natalie lutschte an Zitronenspalten, die mit Zucker bestreut waren. Die abgeknabberte Schale steckte sie sich dann zwischen Zähne und Oberlippe, um mich damit anzugrinsen. In jenem letzten Sommer fing sie damit an, sich mit Zitronensaft die Sommersprossen auf der Nase wegzubleichen. Ich habe es ihr nie gesagt, aber ich mochte ihre Sommersprossen sehr und wünschte mir selbst welche.
    Johnny spielt am liebsten Verstecken. Er konnte sich in die winzigsten Winkel zwängen, wo er nicht zu finden war. Einmal quetschte er sich hinter den Warmwasserboiler, blieb stecken und konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Natalie lachte, aber ich sagte, dass er bestimmt Angst habe. Ich hielt seine Hand, während unsere Mutter eine Flasche Speiseöl über ihm ausschüttete. Später erlaubte er mir als Dankeschön, seinen Lieblingscomic zu lesen.
    Andrew war nur noch sechs Schritte entfernt, fünf, vier …
    «Evan!», rief jemand hinter Andrew. Michael Oliver stürmte die Treppe herauf.
    «Michael, Michael, die Polizei ist da!», schrie Victoria von unten.
    «Mommy!», brüllte Evan aus
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