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Die Frau am Tor (German Edition)

Die Frau am Tor (German Edition)

Titel: Die Frau am Tor (German Edition)
Autoren: Ben Worthmann
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sodass man ihm nicht Mittäterschaft oder Beihilfe anlasten konnte.
    Aber dieser rechtliche Aspekt war gar nicht das Entscheidende, und eigentlich mochte er auch überhaupt nicht daran denken, in welch eine Lage er geriete, wenn es denn so weit käme, dass diese Fragen wirklich eine Rolle spielten. Denn das würde ja zugleich auch bedeuten, dass man der Frau, die diese Situation ursprünglich herbeigeführt hatte, die Tat nachgewiesen hätte. Nach allem, was sie ihm berichtet und dem Eindruck nach, den er von ihr gewonnen hatte, handelte es sich offenkundig um einen Fall von Notwehr. Wahr war aber auch, dass er nicht dabei gewesen war, dass es keinen Zeugen gab. Die entscheidende Frage lautete, ob es denn – jenseits der juristischen Betrachtung - moralisch vertretbar war, dass er ihr geholfen hatte, und er fragte sich das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Doch zu einer abschließenden Antwort gelangte er nicht. Denn sobald er sich diese Frage stellte, sah er die Frau, Julia, Julia Gerlach vor seinem inneren Auge, und dann sah er sich sofort neuen, anderen Fragen ausgesetzt, und er merkte, wie sich in seinem Gehirn die Gedanken aufhäuften, kippten und zu einem Gebilde von wirrer Struktur ineinander schoben.
    Gegen Mittag rief ihn Eva an. Nach wenigen Sätzen meinte sie, er wirke ein bisschen merkwürdig, ob etwas sei.
    “ Ach, es ist nichts weiter”, sagte er und gab sich Mühe, normal zu klingen. “Es ist hier nur immer noch entsetzlich heiß. Man kommt kaum dazu, richtig zu schlafen. Ich fühle mich ziemlich zerschlagen.”
    “ Ja, ich weiß, ich sehe es immer im Wetterbericht. Da um Berlin ist momentan die heißeste Gegend des ganzen Landes. Und hier regnet es.”
    Er fragte sie, wie es mit ihrer Arbeit in Köln vorangehe und wann sie zurückkomme. “Deswegen rufe ich eigentlich an. Ich komme morgen, 17.50 Uhr. Kannst du mich in Tegel abholen? Das wäre schön.”
    Er versprach es ihr. Er hatte sie ziemlich genau zu jener Zeit kennengelernt, da er sich weniger denn je darüber klar gewesen war, an welchem Punkt seines Lebens er angelangt war. Nachdem sich vor rund drei Jahren in der Branche herumgesprochen hatte, dass er nicht mehr schrieb, hatte es etliche Versuche gegeben, ihn umzustimmen – Versuche der großen Zeitschriften- und Magazinverlage, die für jeden anderen vermutlich eine sehr ernsthafte Versuchung dargestellt hätten. Doch er war dagegen gut gefeit gewesen. Er hatte nie große materielle Ansprüche gestellt und stets bescheiden gelebt, wobei ihm zustatten kam, dass in puncto Spesenabrechnungen seinerzeit noch eine Großzügigkeit herrschte, die später von jüngeren Kollegen, die unter der Geißel der Rationalisierung litten, ins Reich der Fabel verwiesen werden würde. Er hatte immer gut, wenn nicht sehr gut verdient und etliches beiseite gelegt.
    Der Name des Reporters Robert Kessler war so etwas wie ein Markenzeichen geworden. Die Themen, über die er schrieb, mochten nicht durchweg exklusiv sein – die Art, wie er schrieb, war es umso mehr. Man schmückte sich nur zu gern damit und ließ es sich etwas kosten. Nicht von ungefähr wurde für Leute wie ihn im Branchenjargon gern der Begriff der Edelfeder verwendet, den er selbst jedoch für sich nur widerwillig akzeptierte, weil mit ihm der unausgesprochene Verdacht verbunden war, es komme ihm und Seinesgleichen lediglich auf möglichst elegante, ja brillante Formulierungen an und weniger auf die Fakten und Schicksale. Doch das war ein Trugschluss. Zeitweilig hatte er sich für hart und abgebrüht gehalten – um dann mehr und mehr festzustellen, wie nahe ihm oftmals ging, was er erlebte und beschrieb und wie viel davon in ihm zurückblieb und auf ihm lastete. Und je mehr Jahre vergingen, desto schwerer wurde die Last, desto dünnhäutiger war er geworden.
    Letztlich sei das Ergebnis ähnlich dem bei Menschen, die am Helfersyndrom litten, hatte der Theraupeut gemeint. Und womöglich sei dieses Zusehenmüssen, oft mit einem Gefühl der Ohnmacht, in seinen psychischen Folgen sogar noch gravierender.
    Nun, was Julia Gerlach anbelangte, so habe ich es immerhin nicht beim Zusehen bewenden lassen, sagte er sich in einem Anflug von Selbstironie, als er jetzt wieder daran denken musste.
    Zwei Bücher – eins über China im Aufbruch, ein anderes über das Sterben in der Sahelzone – waren gleichsam als Nebenprodukte entstanden und hatten sich gut verkauft. Und dann war, einige Jahre nach Anbruch des neuen Jahrtausends, sein Onkel in
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