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Die Frau am Tor (German Edition)

Die Frau am Tor (German Edition)

Titel: Die Frau am Tor (German Edition)
Autoren: Ben Worthmann
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Gedanken, sich für ein paar Stunden ins Bett zu legen. Er würde ohnehin nicht schlafen können, und außerdem war das nicht die erste Nacht, die er ohne Schlaf hinter sich gebracht hatte. Früher waren es meist Gründe gewesen, die direkt mit seinem Job zu tun gehabt hatten – Ereignisse, die sich nicht nach der Tageszeit richteten, Zeitdruck, weil ein Beitrag unbedingt fertig werden musste. Dann, vor ein paar Jahren, waren auf einmal andere Ursachen für fehlenden Nachtschlaf hinzugekommen. Sie standen zwar auch im Zusammenhang mit dem, was er tat, jedoch mehr auf eine indirekte Weise, was dann letztlich zu der für ihn selbst überraschenden Konsequenz geführt hatte, dass er von einem bestimmten Zeitpunkt an nichts mehr tat, und zwar, weil er es einfach nicht mehr konnte.
    Eines Morgens, nach einer Nacht, in der er sich schweißnass im Bett gewälzt hatte, ohne ein Auge zu zu tun, war er in der bestürzenden Gewissheit aufgestanden, keine Zeile mehr schreiben zu können. Er saß an einem Artikel über Shanghai, die neue Boom-Town Ostasiens, und für ein paar Tage gelang es ihm, die Redaktion des Magazins zu vertrösten. Doch dann kapitulierte er. Auf Zureden eines Kollegen, mit dem er über fast alles reden konnte, wandte er sich an einen Arzt, der ihn nach kurzer Konsultation als “geradezu klassischen Burnout-Patienten” bezeichnete und ihm dringend riet, seinen Beruf nicht mehr auszuüben, zumindest nicht in dieser Form. Er erinnerte sich, dass ihm selbst regelrecht schwindelig geworden war, als er dem Arzt – und später auch einem Therapeuten, dessen Hilfe er zeitweise in Anspruch genommen hatte - davon erzählt hatte, was er gesehen und erlebt hatte, von all den endlos vielen Worte, die es gekostet und die er gebraucht hatte, diese Bilder und Eindrücke und Gedanken anderen, ihm völlig fremden Menschen zu vermitteln. Über Kriege und korrupte Politiker, Hungersnöte, Naturkatastrophen und Skandale, Sieger und Geschlagene, demente Boxer und Nobelpreisträger, über Leben und Tod.
    Ihm war klar, weshalb er jetzt wieder an all das denken musste.
    “ Sie sind bestimmt jemand, der gar nicht weiß, was das Wort Angst überhaupt bedeutet”, hatte sie gesagt, und seine Antwort war absolut ehrlich gewesen. Ja, er wusste es, er kannte Angst, auch wenn sie sich paradoxerweise dann, wenn sie am ehesten begründet gewesen wäre, nie eingestellt hatte. In realen Gefahrensituationen – wie beispielsweise im Kosovo-Krieg oder eines Nachts in einer Straße in New York, wo ihn Jugendliche mit Messern umringt hatten – war es ihm fast immer gelungen, geradezu unnatürlich ruhig zu bleiben, sodass es ihm oft selbst nicht ganz geheuer war. Doch er hatte auch diese anderen Momente erlebt, in denen ihm der Boden unter den Füßen weggezogen zu werden schien, in denen er nicht an einer äußeren Bedrohung, sondern nur an sich selbst zu scheitern fürchtete.
    Das Gefühl, das er jetzt in sich spürte angesichts dessen, was er in der zurückliegenden Nacht erlebt und getan hatte, glich allerdings weder der einen noch der anderen Angst, und er hätte nicht einmal zu sagen vermocht, ob es tatsächlich Angst war, die dabei die wesentliche Komponente bildete. Das alles passte überhaupt nicht in sein emotionales Wahrnehmungsraster – und in das rationale schon gar nicht. Dazu mutete es im Rückblick einfach zu unwirklich an.
    Er hatte es immer nur mit der Realität zu tun gehabt, wobei ihn, zugegeben, das Offensichtliche nie besonders gereizt hatte. Vielmehr hatte er es immer als seine Aufgabe betrachtet, unter der Oberfläche dessen, was die anderen sahen und berichteten, zu einer noch tieferen Wirklichkeit vorzustoßen. Doch dies hier war noch wieder etwas völlig anderes.
    Er räumte den Frühstückstisch ab und musste daran denken, wie er heute schon einmal aufgeräumt, wie er Gläser in jene andere Küche getragen und wie er geputzt und gewischt hatte, um etwaige Spuren zu beseitigen, die Hinweise auf den Mann hätten liefern können, dessen Körper er unter einer Laubdecke im Grunewald verscharrt hatte. Rein juristisch betrachtet galt das wohl als Strafvereitelung. Ein wenig kannte er sich in diesen Dingen aus, das hatte schon der Beruf mit sich gebracht; außerdem hatte er einige Semester Jura studiert, aber das war schon lange her. Auch die Beseitigung der Leiche fiel seines Wissens unter diese strafrechtliche Kategorie. Schließlich war er selbst ja erst ins Spiel gekommen, nachdem die Tat bereits ausgeführt war,
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