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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin
Autoren: Anne Chaplet
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Gänsehaut bekam. Diesmal hörte sie keine verdächtigen Geräusche, hatte sie keine Erscheinungen, sah sie keine Gespenster. Etwas anderes machte ihr angst. Es war das vertraute Gefühl – das Gefühl, daß sie allein war.
    »Felis?« rief sie leise, stand auf und suchte mit den Augen die Lieblingsplätze der Katze ab. Sie lag nicht auf dem Stuhl, nicht unter dem Tisch, nicht im Topf mit dem Sommerflieder. Alexa zwang sich zur Ruhe gegen die aufkommende Panik, angelte mit den Zehen nach ihren Sandalen und ging ins Haus.
    »Felis! Komm her! Komm zu mir!«
    Die Katze kam immer , wenn sie nach ihr rief, redete sie sich ein. Nur einmal, das war ein paar Wochen her, hatte Felis sich fast drei Tage nicht blicken lassen. Todesängste hatte sie ausgestanden – bis sie endlich das Jammern einer Katze hörte und hinunter zum Tor lief. Felis stand davor, zerzaust und abgemagert. Sie wußte bis heute nicht, wie das Tier aus dem Haus herausgekommen war.
    Alexa lehnte sich gegen die kühle Küchenwand und versuchte, ruhig zu atmen.
    Das Kind hatte keine Worte für das Unglück. Es fühlte nur einen unbarmherzigen Schmerz, einen nie gefühlten und doch schrecklich vertrauten Schmerz. Es weinte bis zur Erschöpfung.
    »Vielleicht ist er morgen wieder da«, sagte Vater irgendwann, aber das Kind sah in seinem Gesicht, daß er nicht daran glaubte.
    »Du kommst darüber hinweg«, sagte Mutter und das Kind haßte sie dafür.
    Aber am meisten haßte es sich selbst. Es hatte seine gerechte Strafe bekommen. Es hatte diese Strafe verdient.
    Sie waren übers Wochenende zur Großmutter gefahren, das Kind und die Mutter. »Großmutter stirbt«, hatte Mutter gesagt. »Sie will dich noch einmal sehen. Sei lieb zu ihr.« Großmutter lag im Bett, sie hatte kalte Hände und roch nicht gut. Das Kind mochte nicht von ihr geküßt werden. Die alte Frau tätschelte ihm die Wange. Es drehte den Kopf weg. »Benimm dich! Vielleicht siehst du sie zum letzten Mal!« zischte Mutter. Das Kind quengelte. »Aber ich tu dir doch nichts, Püppchen!« flüsterte Großmutter. Das Kind wandte ihr den Rücken zu.
    Mutter schwieg die ganze lange Fahrt über, aber das Kind war froh, daß es wieder nach Hause ging. Vater war da, er hatte von seinem letzten Flug ein Geschenk mitgebracht – ein buntes Halstuch. Das Kind fiel ihm um den Hals und bettelte dann so lange, bis er ihm eine Geschichte erzählte. Erst nach einer schrecklich langen Zeit merkte das Kind, daß etwas fehlte. Daß es etwas vermißte.
    »Wo ist Jonny?« Der Vater sah verlegen aus, so, wie Erwachsene aussehen, wenn sie etwas verbergen wollen. »Wo ist er? Wo? Wo?« Es mußte etwas passiert sein. Etwas Schreckliches.
    Jonny. Vater hatte ihn vorigen Winter vor der Haustür gefunden, ein schwarzes Hundebaby mit weißem Brustlatz und Seidenöhrchen und dicken Pfoten. »Man hat ihn ausgesetzt«, hatte er gesagt, als er das zitternde kleine Fellbündel ins Wohnzimmer brachte.
    Ausgesetzt. Was für ein schreckliches Wort.
    »Jetzt ist alles gut«, hatte das Kind dem Hundebaby zugeflüstert. Und so war es auch. Der Hund liebte das Kind und das Kind liebte den Hund – Winter, Frühjahr und den ganzen langen Sommer über. Sie waren unzertrennlich. Sie gehörten zusammen.
    Er konnte nicht fort sein. Das Kind rief nach dem Hund. Es suchte nach Jonny, im Garten, im Schuppen, am Teich, im Wald. Es suchte, bis es sich heiser geschrien hatte nach dem Tier.
    Es war das Jahr, in dem Prince Charles Lady Di heiratete. Vorher hatte das Kind im Fernsehen Bilder von Menschenmengen gesehen, die Steine warfen und brennende Flaschen, Menschen, die mit Knüppeln schlugen und mit den Füßen nach anderen Menschen traten. Sogar auf den Papst wurde geschossen. Am Abendbrottisch gab es lange Zeit kein anderes Thema. Es war das Jahr, in dem Großmutter starb. Es war das Jahr, in dem sich die Welt veränderte.
    Jonny kam nicht zurück. Noch nie hatte etwas dem Kind so weh getan. Ein Jahr später zog die beste Schulfreundin in eine andere Stadt. Das Kind weinte sich die Augen aus. Dann starb die Frau, die Sissi war. Das Kind war traurig. Und eines Tages stand Mutter neben dem Bett des Kindes und hatte rotgeweinte Augen und sagte:
    »Wir müssen jetzt ganz tapfer sein.« Seit diesem Augenblick vergoß das Kind keine einzige Träne mehr.
    Alexa kämpfte gegen die Übelkeit an, die in ihr hochzusteigen drohte. Sie begann, das Haus von oben bis unten zu durchsuchen, mal Kosenamen, mal Verwünschungen rufend. Und schließlich schien es
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