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Die Flakhelfer: Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden (German Edition)

Die Flakhelfer: Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden (German Edition)

Titel: Die Flakhelfer: Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden (German Edition)
Autoren: Malte Herwig
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Aber auf dem Marinekommando II, erzählte mir mein Vater, hätten die Offiziere noch im Frühjahr 1945 auf die Tischmanieren der jungen Rekruten geachtet, die das Reich retten sollten.
    Als man ihm in Wien schließlich seinen Marschbefehl in die Hand drückte und befahl, sich damit auf der zuständigen Stelle zu melden, tat mein Vater das ihm einzig sinnvoll Erscheinende: Er zerknüllte den Zettel und verdrückte sich.
    Trägheit ist eine starke physikalische Kraft, die gern unterschätzt wird. Auch von Diktaturen. Wären alle so gewesen wie mein Vater, der Volksstaat wäre vielleicht bald aus Mangel an Interesse der Beteiligten zusammengebrochen. Doch es kam anders, und das »Dritte Reich« hätte mehr Helden gebraucht als die wenigen Studenten, Arbeiter und Offiziere, die ihr Leben im mutigen Kampf gegen das Unrecht verloren und seitdem als Alibi für das »andere Deutschland« herhalten müssen. Brecht hat recht: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.«
    Für die »geradezu lächerlich deutsche Sehnsucht nach Vorbildern«, von der Margarete Mitscherlich einmal sprach, taugt mein Vater nicht als Exempel – weder vor 1945 noch danach. Nein, mein Vater war kein Held und wollte keiner werden. Weder für Hitler noch für den Widerstand. Der Hitlerjunge Herwig war weder zäh wie ein Wiesel, noch flink wie ein Windhund, noch hart wie Kruppstahl. Stattdessen war er: rosig, satt und selbstzufrieden. So richtete sich mein Vater in einer gänzlich unheroischen Form des passiven Widerstands im »Dritten Reich« ein, der die Machthaber wenig entgegensetzen konnten. Offener Rebellion begegneten sie mit Repressalien, KZ und Todesurteilen. Aber mit lauter faulen Volksgenossen wie ihm war kein Staat zu machen, erst recht kein »Tausendjähriges Reich«.
    Mit der Vergangenheit hat sich mein Vater ungern beschäftigt, aber sie beschäftigte ihn. Wenn im Fernsehen etwas über Hitler oder den Holocaust kam, wurde es »weggedreht«. Lieber Tierfilme. Den Krieg an der Front hat er nicht erleben müssen. Dafür die Zerstörung seiner Heimatstadt Kassel, die 1943 von alliierten Bombern in Schutt und Asche gelegt wurde. Die Leichen auf der Straße vor dem Bunker am Weinberg. Die Sirenen. Den Feuersturm.
    Oft habe ich ihn nach seinen Erinnerungen an die damalige Zeit gefragt. Wusste er als Jugendlicher, was mit den Juden geschah? »Die wohnten in einem anderen Viertel«, lautete die Antwort. Aber er erzählte auch, wie er sich wunderte, als sein jüdischer Kinderarzt von einem Tag auf den anderen verschwand.
    Heute scheint es mir, als hätte ich mitunter die falschen Fragen gestellt – oder die richtigen nicht gestellt. Ich war skeptisch, als mir mein Vater erzählte, der Großvater habe einen jüdischen Mitarbeiter in der Spedition geschützt. Zu oft hatte man solche Erzählungen in der Schule als Schutzbehauptungen entlarvt. Also suchte ich den Mann, und er bestätigte mir, dass mein Großvater ihn durch die Beschäftigung im Familienbetrieb tatsächlich gerettet habe. Der Konsul sei ein wirklich feiner Mensch gewesen, sagte mir der Mann kurz vor seinem Tod, und er denke bis heute mit Dankbarkeit und Achtung an ihn.
    Falsche Frage, richtige Antwort? Denn was wusste ich wirklich über meinen Großvater? Von »den Nazis« habe man im Hause Herwig keine hohe Meinung gehabt, die Eltern seien bürgerlich-nationalkonservativ gewesen, hatte mir mein Vater immer erzählt. Ich war 37, als ich ihn zum ersten Mal fragte, ob der Großvater denn in der NSDAP gewesen sei. Es war eine Frage, die ich so direkt nie gestellt hatte (auch wenn sie in unseren Gesprächen oft gemeint war) und die mir mein Vater umstandslos beantwortete: Ja, der Großvater sei in der NSDAP gewesen, denn er leitete mit seinem Bruder das Familienunternehmen. Der Bruder aber war Freimaurer, und »einer musste doch in die Partei«.
    Richtige Frage, falsche Antwort? Meinen Großvater konnte ich nicht mehr fragen. Er war im August 1944 an einem Herzanfall zu Hause in Kassel gestorben. So lernte ich spät, dass die alten Geschichten noch lange nicht vorbei sind. Dass alles, was wir in der Schule über die Verdrängung in der Adenauerzeit erfahren hatten, uns Geschichtsbewältigte noch viel unmittelbarer betraf, als wir glaubten.
    Vier Wochen nach dem plötzlichen Tod meines Großvaters im August 1944 heulten über Kassel wieder die Sirenen. Mein Vater und seine Schwester mussten meine Großmutter in den Luftschutzkeller zerren, so untröstlich war sie über den Tod ihres
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