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Die erregte Republik

Die erregte Republik

Titel: Die erregte Republik
Autoren: Thymian Bussemer
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einzelnen Personen oder Gruppen festmachen und entsprechend medial inszenieren.
    Die Frage ist, ob das diskursive Instrumentarium, das wir in unserem Land zur Verfügung haben, angesichts von so viel |55| Störfeuer für die Bearbeitung der anstehenden gesellschaftlichen Probleme angemessen ist. Trägt die kommunikative Ausstattung unserer Mediengesellschaft die Themen, die wir als Gemeinwesen bewältigen müssen? Man darf daran zweifeln. Ob Köhler-Rücktritt, Guttenberg-Hype, Steuersenkung, Sarrazin,
Axolotl Roadkill
, die faulen Griechen, die dummen Banker oder die Rückkehr des Kommunismus – immer seltener decken sich Themen und Aufbereitungsformen der politisch-medialen Entrüstungsspirale mit den drängendsten Problemen des Landes. Die Medienlogik überlagert die demokratische Diskurslogik, mediale Erregungsfaktoren werden zunehmend wichtiger als gesellschaftliche Regelungsbedürfnisse, der Diskurs irrlichtert immer nervöser von Aufreger zu Aufreger. Nicht immer ist die Diskrepanz zwischen Realität und Mediendiskurs so krass wie im Frühjahr 2010, als Bundesaußenminister Guido Westerwelle der Zeitschrift
Bravo
ein spätpubertäres Interview gab – als erster Spitzenpolitiker überhaupt in 55 Jahren
Bravo
-Geschichte. Westerwelle konnte schwerlich ahnen, dass dieses Gespräch ausgerechnet in jener unseligen Aprilwoche erscheinen würde, in der in Afghanistan sieben deutsche Soldaten starben. Auch hatten es seine Berater wohl versäumt, ihrem Chef die Weisung mit auf den Weg zu geben, in das Interview ein paar ernsthafte Bemerkungen einzustreuen, um das ganze Unterfangen als Beitrag zur politischen Bildung und staatsbürgerlichen Erziehung der Jugend ausweisen zu können. So erschien das Westerwelle-Interview als echte Spaß-Guido-Nummer: Ein aufgekratzter Außenminister protzte stolz mit seinem Dienstwagen, gestand, dass er früher auf Suzi Quatro in schwarzen Lederklamotten stand, und beschrieb ausführlich sein Verhältnis zu den »Doktor-Sommer-Seiten«, wo er gelernt habe, dass Zungenküsse nicht automatisch mit einer Schwangerschaft enden. |56| 33 Gleichzeitig befand sich Deutschland angesichts der Entwicklung in Afghanistan für ein paar Tage in Schockstarre.
    Dennoch ist Westerwelles
Bravo
-Interview eine Chiffre für den Zustand der öffentlichen Debatte in Deutschland: Für die Diskrepanz zwischen dem Relevanten, aber schwer Beschreibbaren, und dem in den Medien breit herausgestellten Eindeutigen, Schlaglichtartigen. Und für die Doppelbödigkeit einer öffentlichen Diskussion, die nur noch selten aus dem engen Regelkorsett auszubrechen vermag, das für Mediendiskurse gilt. Da kann sich der Philosoph Peter Sloterdijk, ohne auch nur die Grundzüge des deutschen Steuersystems wirklich zu verstehen, monatelang auf allen Bühnen über den »Steuerstaat« auslassen, der angeblich die Leistungsträger zugunsten der Unproduktiven ausplündert, längst abgehalfterte Ex-Politiker werden zu Kronzeugen gegen ihre aktuellen Parteiführungen aufgebaut und selbst Wolfgang Clement findet Foren, um als »unabhängiger Sozialdemokrat« zur Wahl von Guido Westerwelle aufzurufen. Die sorgsam inszenierten Aufreger und anlasslosen Grundsatzdebatten ziehen sich bis weit in die Spitzenliga des deutschen Journalismus – und mitunter wärmt man selbst dort uralte Debatten noch einmal auf, weil ihre Erregungsmuster so gut funktionieren. Die feuilletonistische Großoffensive des Herbstes 2010 rund um die Historikerstudie
Das Amt
zur braunen Vergangenheit des deutschen diplomatischen Dienstes kam zum Beispiel 32 Jahre zu spät. Denn schon 1978 war Christopher Brownings Arbeit
Final Solution and the German Foreign Office
erschienen, die im Kern dasselbe sagte, wie 2010 die Historikerkommission des Auswärtigen Amtes, dabei aber handwerklich viel solider gearbeitet war.
    Manchmal geht es ein bisschen zu wie im Billig-Supermarkt: Die Ware ist zwar nicht mehr ganz frisch, lässt sich aber wunderbar verpacken. Diskurse als billige, schnell verwertbare |57| Massenware sind ein Hauptkennzeichen der letzten Dekade. Zu verzeichnen ist die Zunahme von Erregungszuständen ohne wirklichen Rückbezug in der gesellschaftlichen oder politischen Realität, die dann aber paradoxerweise doch zu einer weiteren Diskreditierung des Politischen führen, weil die Politik sich weigert, auf einem Feld tätig zu werden, für das sie gar nicht zuständig ist. Zwar ist diese Dynamik schon in der Struktur der Medien angelegt, doch in jüngster Zeit hat
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