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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Scott Nicholson
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Träumen weint sie Tränen aus Tau.
     
    Gedichte. Hunderte, ja vielleicht tausende Seiten mit Gedichten. Und sie hatte ihm nie auch nur ein Wort darüber gesagt. Er las mit Herzklopfen mehrere Gedichte. Soweit er das beurteilen konnte, waren einige sicherlich gut genug, um veröffentlicht zu werden. Sicher besser als ein paar von denen, die er auf der Uni lesen musste.
    Tante Mayzie musste schon seit Jahren, vielleicht sogar seit Jahrzehnten geschrieben haben. Und nie hatte sie darüber gesprochen. Hier lag ihr ganzen Leben, Millionen Silben und Fragmente und unterbrochene Gedanken, manchmal wegradiert und ausgebessert. Die Symbole ihrer Seele. Er fragte sich, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn er ein paar der Gedichte einschicken würde. Er hatte aus seiner Zeit in Georgetown noch ein paar Kontakte zur Literaturszene.
    Vielleicht konnte er sich so bei ihr bedanken, sich entschuldigen, indem er ihre Werke der Welt präsentierte. Das war das Wenigste, was er tun konnte. Er war gerade dabei, mit seiner Schuld zurecht zu kommen. Vielleicht hatte er ja keine Schuld. Vielleicht war sie ja nur bereit gewesen nach Hause zu gehen. Heim zu Onkel Theo und Oliver.
    Und vielleicht würde er ja noch ein bisschen in Windshake bleiben. Er hatte Sarah auf der Straße getroffen, als die Presse und die Wissenschaftler und die Nationalgarde auf der Suche nach ein paar getrockneter Sporen der Toten durch die Stadt gezogen waren. Er hätte nichts dagegen, Sarah ein bisschen besser kennen zu lernen. Sie hatte ja auch ein Schicksal zu beklagen. Vielleicht könnten sie sich ja gegenseitig stützen.
    Und außerdem brauchte die Stadt ja auch ihren eigenen Nigg…nein, einen Schwarzen. Oder einfach einen anderen Menschen.
    Menschenwürde bekam man nicht durch die anderen. Menschenwürde erlangte man durch sein eigenes Bewusstsein. Mitgefühl war wichtiger als Leben oder Tod, beziehungsweise dieser furchtbare Zustand, der zwischen den beiden lag. Und Utopien brachten auch Probleme mit sich.
    In diesem einen Blick auf Shu-shaaa, hatte er sowohl die absolute Schönheit als auch die Leere der kosmischen Einheit sehen können. Wenn alles Eins war, dann würde es niemals Zwei geben.
    Er las den Rest von Mayzies Gedichten.
     
    ###
     
    Bill schaute über die grünen Wiesen am Fuße des Fool´s Knob, schaute auf das großartige Naturschauspiel des Herrn. Er konnte sich beinahe noch das eingedrückte Gras an der Stelle, an der er sich mit Nettie fleischlich vereinigt hatte, vorstellen.
    Er hatte noch starke Erinnerungen daran, auch wenn diese mit der Zeit schwächer zu werden begannen. Die schlechten Erinnerungen begannen zuerst wegzufallen, die scharfen Zacken der Albträume würden stumpfer, die alten Wunden begannen zu heilen.
    Aber auch die guten Erinnerungen wurden schwächer und das machte ihn traurig. Er konnte sich kaum mehr an Netties Augen erinnern. Er wusste, dass sie dunkelbraun und tiefsinnig waren, aber er konnte sich nicht mehr an ihr Glitzern erinnern, wenn sie lächelte. Er konnte sich auch nicht mehr genau an ihre Stimme erinnern, gerade hier auf der Wiese, wo die Spatzen ihr Lied pfiffen und der Wind durch die Tannenzweige hauchte. Er musste tief einatmen, um zumindest eine leise Ahnung an den Duft ihrer Haut wachzurufen.
    Aber sie würden sich ja wiedersehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Herr auch ihn nach Hause rufen würde. Er hätte nur gerne Nettie ein christliches Begräbnis gegeben. Aber wie alle anderen hatte sie sich ins Nichts aufgelöst.
    Er konnte ihr Fleisch nicht begraben und ihre Seele war schon längst an einem besseren Ort.
    Mit seinen Fingern machte er eine kleine Grube in die feuchte Erde, so tief wie die Wurzeln des Klees und des Löwenzahns. Er pflückte eine Butterblume, legte sie zärtlich in das Grab und bedeckte das helle Gelb der Blüte mit Erde.
    Morgen war Ostersonntag, der Tag der Wiedergeburt. Aber heute war noch ein Tag so wie jeder andere, ein Tag in einem dunklen Grab, wartend auf die Auferstehung.
    Er kniete sich in das Gras und betete. Dann stand er auf, stand in der grünen Wiese und blickte ins weite Nichts.
     
    ###
     
    Tamara legte die Zeitschrift, die sie gerade gelesen hatte, wieder hin. Ginger und Kevin spielten auf dem Wohnzimmerboden ein Kartenspiel. Es war nicht kalt, aber Robert hatte trotzdem im Kamin ein Feuer angezündet. Die Flammen waren laut und fröhlich.
    Robert saß neben ihr auf der Couch und küsste sie auf den Hals. »Für den Rest meines Lebens werde ich
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