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Die Erfinder des guten Geschmacks

Die Erfinder des guten Geschmacks

Titel: Die Erfinder des guten Geschmacks
Autoren: Jörg Zipprick
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Molekularküche im Jahr 2010 auf die Iberische Halbinsel gezogen, erklärte der damalige spanische Generalsekretär für Binnenhandel und Tourismus, Joan Mesquida, im Dezember 2011. Deren Ausgaben wären um sieben Prozent gestiegen, während die Steigerung bei den »allgemeinen Touristen« nur ein kümmerliches Prozentchen betrug. Wie Spaniens Behörden messen, welche Urlauber zu welchem Zweck ins Land strömen, ist nicht bekannt. Individuelle Befragungen dürften wohl ausscheiden. Auch der kulinarische Tourist als solcher ist nicht definiert. Will er einen Tisch im Avantgarde-Restaurant oder nur eine Paella nebst leckerem Weinchen?
    Und sorgt die neue kulinarische Reiselust, wenn es siedenn überhaupt geben sollte, wirklich für einen Aufschwung des Reiselandes Spanien? Schließlich ist es nach der Statistik der Welttourismusorganisation UNWTO das viertbeliebteste Urlaubsland der Welt mit 57,7 Millionen Besuchern im Jahr 2012, übertroffen nur von China, den USA und Frankreich mit 83 Millionen. Die »allgemeinen Touristen« bilden also eine solide Mehrheit. Ein wenig irritierend ist auch, dass das touristische Boomland Dänemark – anders als vom Time Magazine geschildert – von 8,7 Millionen Besuchern im Jahr 2010 auf 7,3 Millionen im Jahr 2011 absackte. Für 2012 legte die UNWTO vor Redaktionsschluss keine dänischen Zahlen vor.
    Vielleicht ist es ja so, dass die Kommunikationsmaßnahmen rund um ein Spitzenrestaurant zügig Zeitschriftenbeiträge und Blogeinträge generieren. Für die weitaus größte Mehrzahl der Touristen ist besagtes Lokal jedoch irrelevant. Sie werden es nicht besuchen, sie können sich einen Besuch womöglich gar nicht leisten oder, schlimmer noch, es wirkt zu elitär, um wirklich anziehend zu sein.
    Viele Menschen würden gern gut essen. Sie gehen ins Restaurant, um eine schöne Zeit zu verbringen. Vielleicht müssen sie auch im Geschäftsleben gelegentlich repräsentieren. Doch nur wenige Menschen besuchen Restaurants, um sich »Kunst« oral zuzuführen. Der elitäre Habitus der Künstlerköche wirkt letztlich abschreckend. Denn eines vergessen ihre sorgsam ausgetüftelten Kommunikationspläne: den Genuss.
Von der Restaurantkritik zur Hofberichterstattung
    Zusatzstoffe, Industriearomen – das alles verstößt gegen so ziemlich alle Kriterien, die sowohl die Köche selbst als auchdie einflussreichsten Kritiker den Restaurantgästen mehr als ein Jahrhundert lang versprachen. Gesunde, natürliche Lebensmittel, das Beste vom Besten, Zutaten, die ihren Eigengeschmack bewahren, ehrliche Speisekarten … Das waren die Versprechen, die Köche ihren Gästen gaben. Doch all dies scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
    Früher wären derartige Praktiken durch die Fachpresse und Restaurantführer sanktioniert worden. Die Inspektion der Küche wurde in den Siebzigerjahren eigens ins Testprogramm der Kritiker aufgenommen. »Man wollte prüfen«, so der »abtrünnige« Michelin -Tester Pascal Remy, der 2004 ein Enthüllungsbuch über seinen Arbeitgeber veröffentlichte, »ob der Wirt industriell gefertigte Tiefkühlkost auftischte«. Knappe 30 Jahre später werden industrielle Techniken mit schöner Regelmäßigkeit besternt.
    Die Ausbreitung der Nahrungsmittel-, Aromen- und Additivindustrie traf auf eine wirtschaftlich extrem geschwächte Restaurantkritik. Das ehemalige Flaggschiff der Restaurantkritik Guide Michelin France fand 2011 laut Branchenmagazin Livres Hebdo nur noch 107   000 Käufer. Vor zehn Jahren waren es nach Verlagsangaben mehr als drei Mal so viele.
    Der schwindende Einfluss der Kritik fiel natürlich auch den französischen Köchen auf. Etliche Köche desertierten: Joël Robuchon, Philippe Gaertner, Alain Senderens und andere wollten über ihren Lokalen keine Sterne mehr glänzen sehen.
    Alain Senderens sei »zu alt für das Schalottenrennen«, erklärte er in Le Monde . »Meine Bilanz ist positiv, Angst vor Verlust eines Sterns kenne ich nicht. Aber ich bin in den vergangenen Jahren viel gereist und habe gesehen, dass sich die Welt des Essens verändert hat – auch wenn Frankreich konservativ bleibt.« Der Mitbegründer der Nouvelle Cuisine war es »satt, vier Angestellte um einen Tisch stehen zu haben«, und wollte,dass bei ihm »wieder die Gerichte im Mittelpunkt stehen«. Mit diesen Worten bat er die Direktion des Guide Michelin , ihn künftig unerwähnt zu lassen.
    »Das ist der Fall der Berliner Mauer«, jubelte die Tageszeitung Le Figaro . Schließlich hatte da ein
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