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Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Autoren: Ulrike Schweikert
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empört.
    »Ich wollte dir den Vortritt lassen.«
    Alisa riss ungestüm den Umschlag auf und entfaltete das einzige Blatt, das darin steckte.
    »Viel schreibt er nicht«, meinte Leo mit einem Blick auf die wenigen Sätze, die das Papier bedeckten.
    »Nein«, bestätigte Alisa, deren Augenbrauen nach oben wanderten. »Nur, dass er mit Clarissa nach Venedig geht und dass er sich wieder meldet.«
    Die beiden sahen einander fragend an.
    »Was um alles in der Welt will er in Venedig?«, wunderte sich Alisa.
    »Keine Ahnung«, erwiderte Leo. »Das wäre aber erst meine zweite Frage gewesen. Die viel dringendere Frage ist doch: Warum verlassen die beiden Rom? Luciano klingt nicht, als würden die beiden auf Hochzeitsreise gehen.«
    Alisa sah auf die flüchtig hingekritzelten Worte.
    »Nein, du hast recht. Irgendetwas muss bei den Nosferas vorgefallen sein, dass sie es nicht länger ausgehalten haben.«
    Leo nickte zustimmend. »Und ich vermute, das hat irgendetwas mit Clarissa und ihrem unreinen Blut zu tun. Das war nur eine Frage der Zeit.«
    Alisa widersprach nicht, obgleich sie gern ein Argument dagegen gefunden hätte.
    »Ich hoffe nur, die beiden melden sich bald«, sagte sie mit einem Seufzer, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in ihre Tasche.
    S AN M ICHELE
    Luciano schlug die Augen auf und lauschte. Die Sonne musste gerade hinter dem Horizont verschwunden sein und nun senkte sich die Nacht herab. Das Rattern des Zuges und das rhythmische Poltern der Eisenbahnschwellen waren verstummt, und obgleich ihm der typische Geruch von brackigem Lagunenwasser in die Nase stieg, stand der Sarg ganz still, und das Plätschern von Wasser drang nur von fern an sein Ohr. Sie mussten ihr Ziel bereits erreicht haben. Luciano nahm Witterung auf. Er konnte den Geruch der Männer ausmachen, die den Sarg in Santa Lucia aus dem Eisenbahnwaggon geladen und zu einem Boot gebracht hatten. Dann drang ihm der Schweiß von zwei weiteren Männern in die Nase. Vielleicht die Gondolieri, die ihre Fracht hierhergerudert und dann an Land getragen hatten. Aber sie schienen nicht mehr da zu sein. Er sog noch einmal die Luft ein. Noch stärker als die Lebenden konnte er die Toten riechen. Männer und Frauen, deren Körper dem Zerfall preisgegeben waren. Doch am wichtigsten war, dass er Clarissas Nähe witterte und sich im Augenblick kein lebender Mensch in der Nähe befand.
    Luciano stemmte sich gegen das Holz, bis die Nägel nachgaben und der Deckel aufschwang. Mit einem Satz war er aus dem Sarg und sah sich um. Sein Blick fiel auf den zweiten Sarg, der neben dem seinen stand. Luciano spürte, dass Clarissa ebenfalls erwacht war. Rasch machte er sich daran, auch sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Mit einem betont zuversichtlichen Lächeln hob er den Deckel und reichte ihr die Hand.
    »Wir sind da«, sagte er, als sie sich aufsetzte. Clarissa erwiderte sein Lächeln nur schwach. Sie war noch durcheinander von dem überstürzten Aufbruch am letzten Morgen. Der Conte hatte getobt, Luciano hatte all ihre Sachen gepackt, ohne ihr etwas zu sagen, und sie hatten sich heimlich davongemacht.
    »Wo sind wir? Wo hast du uns hinbringen lassen?«
    Sie wandte den Kopf und sah sich um. Luciano folgte ihrem Blick. Sie befanden sich in einem dunklen steinernen Gelass, in dem außer ihren noch zwei weitere Särge standen. An den Wänden schimmerten Marmorplatten, in die schwarze Buchstaben eingraviert waren. Hinter den Platten mussten ebenfalls Särge lagern, sie konnten den Geruch der Toten erahnen. Ein paar vertrocknete Blumen lagen zu Füßen der wie ein steinerner Schrank anmutenden Grabstätte. Die Wand gegenüber war ähnlich aufgebaut, nur dass die quadratischen Marmorplatten viel kleiner waren und durch die Ritzen des Kolumbariums ein schwacher Geruch von Asche drang. Dahinter mussten Urnen stehen.
    »Wo sind wir?«, wiederholte Clarissa ihre Frage.
    »In Venedig. Zumindest fast«, gab er zu. »Im Augenblick sind wir auf der Friedhofsinsel San Michele, wohin Särge eben geliefert werden, seit die Toten nicht mehr in den Kirchhöfen der Stadt beerdigt werden dürfen. Hier sind wir sicher.«
    Clarissa fragte nicht weiter nach. Vielleicht war sie noch zu betäubt von den Ereignissen. Sie stieg aus ihrem Sarg, und Luciano sah, dass sie sich um eine tapfere Miene bemühte. »Dann wollen wir uns mal umsehen.«
    Luciano drückte ihre Hand und lächelte aufmunternd. Er ging mit ihr zur Tür, die sie in einen Kreuzgang führte. Sie folgten dem von Rundbögen
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