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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode
Autoren: Petra Oelker
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fallen. Es war hoffnungslos. Es würde Wochen dauern, bis alle wieder in ihren Fächern lagen. Sie waren winzig, und die Setzer mussten blind nach ihnen greifen und darauf vertrauen können, dass alle Zeichen in den richtigen Fächern lagen.
    Drei Kästen lagen auf dem Boden, einer musste also noch auf seinem Platz auf dem hinteren Tisch stehen. Wenn seine Fächer gut gefüllt waren, konnten sie dieLettern auf zwei Kästen verteilen, konnten zwei Setzer arbeiten, jedenfalls so lange, bis die ersten Buchstaben ausgingen. Aber wenn nicht, wenn er nur in einer anderen Ecke lag? Hinter der dritten Presse ausgeleert wie die andern?
    Hastig beugte sie sich vor, schirmte mit der Hand die Augen gegen das schräg einfallende Licht und sah zwischen den stämmigen Beinen der Druckpressen hindurch. Ihr Herz machte einen Satz und sie erstarrte. Da lag kein Setzkasten, da lagen auch keine Lettern. Da lag ein Mann. Ein blutiges Rinnsal aus seinem rechten Ohr war an seinem Hals entlang und in seine weiße Halsbinde gesickert.
    ***
    Die Braut saß in der ersten Reihe und strich immer wieder zärtlich über den Stoff ihres lichtblauen Kleides. Es war das schönste und ganz gewiss auch das feinste, das sie je besessen hatte, ein wertvolles Geschenk einer alten Dame, die sie bis heute nicht einmal gekannt hatte. Es war nicht ganz neu, doch selbst die glänzenden weißen Bänder am Dekolleté und an den Ärmeln schimmerten makellos. Dass die ungewohnten Stäbe aus Fischgrat über der Taille sie zwangen, sehr aufrecht zu sitzen, störte sie nicht, heute war ein Tag zum Aufrechtsitzen. Ihre rechte Hand, dünn wie ihr ganzer kleiner Körper und rau und gerötet – daran hatten auch die Einreibungen mit Mattis kostbarer Beinwellsalbe nur wenig geändert   –, tastete behutsam nach der Seidenblume in ihrem Haar. Auch die war ein Geschenk, von Rosina, der jungen Frau, die neben ihr in der Bank unruhig hin und her rutschte.
    «Ich bin gleich wieder da», flüsterte die ihr zu, «lauf nicht weg.»
    Karla nickte, ohne ihren Blick von dem geschnitzten Mittelschrein des Altars abzuwenden. Das leidend-selige Gesicht der heiligen Barbara unter der Gloriole, vielleicht auch die zahlreichen vergoldeten biblischen Figuren auf den Seitenflügeln, schien sie völlig in Anspruch zu nehmen. Oder sie starrte nur auf den einsam davor wartenden Trauschemel.
    Rosina schritt rasch durch den kurzen Gang der Seitenkappelle, beantwortete die Fragen in den Gesichtern der anderen Hochzeitsgäste mit einem beruhigenden Lächeln und eilte, so rasch es der Anstand an einem geweihten Ort erlaubte, über die uralten Grabplatten des Seitenganges der St.-Johanniskirche zum Portal. Sie hatte befürchtet, dass es bei dieser Hochzeit die eine oder andere Konfusion geben würde – aber schon bevor die Zeremonie begann?
    Als sie vor zwei Stunden vor der Tür der kleinen Wohnung am Plan eintraf, in der das junge Ehepaar ab heute wohnen wollte, fand sie sie unverschlossen und verlassen. Kein guter Anfang für einen Hochzeitstag. Karla lief manchmal in der Stadt oder auf den Wiesen des Hamburger Berges herum und vergaß, beizeiten nach Hause zu gehen. Es gebe dort so viel zu sehen, hatte sie sich mit ihrer dünnen Stimme entschuldigt, wer höre da schon ständig auf die Glocken und denke an die Uhr?
    Man müsse das Kind nehmen, wie es sei, hatte Matti, in deren Haus Karla das letzte Jahr gelebt hatte, milde erklärt. Sie sei brav, fleißig, ein wenig langsam, das wohl, aber nicht so dumm, wie es scheine. Das sei mehr, als man von manchen jungen Frauen sagen könne, und wersei schon gänzlich frei von Marotten? Dabei hatte sie Rosina mit ihren weisen, immer noch veilchenblauen Augen angesehen, und die fühlte sich auf diese liebevolle Art ertappt, auf die sich nur Matti verstand. Ihr Unmut schwand – bis heute Morgen.
    Matti, die alte Hebamme vom Hamburger Berg, war eine geduldige Frau. Wofür sie Rosina, der diese Tugend völlig fehlte, bewunderte. Also klopfte sie geduldig an die Türen der Nachbarn, aber niemand hatte Karla gesehen, kaum einer kannte sie, sie war ja erst am Tag zuvor eingezogen.
    Dann erinnerte sie sich: die Kleine Alster! An deren Ufer, nur wenige Schritte entfernt neben dem Durchgang zum Gymnasium, hatte Karla ihren geheimen Lieblingsplatz. An den habe sie sich früher oft geflüchtet, hatte sie Rosina vor einigen Tagen anvertraut, während sie gemeinsam das zu große Kleid für die Hochzeit passend machten.
    Hier fand Rosina sie auch an diesem Morgen. Sie
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