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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode
Autoren: Petra Oelker
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sie einige Minuten für sich allein in der Druckerei. Und konnte anderen sentimentalen Gedanken nachhängen.
    Zwei Tauben flogen auf, als sie in den Hof trat, sie beschloss, dass das ein gutes Omen sei. Sie sah den Vögeln nach und zur Krone der Kastanie hinauf. In der vergangen Woche waren die dicken klebrigen Knospen aufgeplatzt, noch waren die Blätter klein, doch schon bald würde der Baum seine ganze Pracht entfalten und die unreifen Knotengebilde seiner Kerzen sich in kleine Pyramiden aus duftig-weißen Blüten verwandeln. Abraham hatte die Kastanie schon vor Jahren fällen lassen wollen. Sie sei nun zu groß, hatte er gesagt, ihr Schatten verdunkle die Druckerei. Immer wieder war es ihr gelungen, ihm noch ein Jahr für den schönen Baum abzuringen, dann noch eines und noch eines. Doch jetzt, da sie alle Verantwortung alleine trug, ertappte sie sich bei dem gleichen Gedanken.
    Sie schüttelte energisch den Kopf: Jetzt erst recht nicht. Während der Tage und Nächte, die sie Stunde um Stunde an Onnes Bett gesessen hatte, war der Blick auf das langsam, gleichwohl stetig wachsende Grün ihr größter Trost gewesen. Die stille Kraft des Baumes, der Jahr um Jahr die tote Zeit des Winters überlebte, um im Frühjahr sein üppiges Laub hervorzubringen, war ihr zum Symbol der Zuversicht geworden. Sie legte beide Hände fest an die raue Rinde, wäre es ihr nicht so unchristlich und töricht erschienen, hätte sie danke gesagt.
    Rasch zog sie die Hände zurück und barg sie in den Taschen ihres Rockes. Sie stellte sich Merthes Gesicht vor, wenn sie sie bei der Berührung des Baumes beobachtethätte. Einem Baum zu danken, seinen Stamm zu streicheln, wäre Merthe nicht einmal ketzerisch vorgekommen, sondern ausschließlich einfältig. Davon bekam man nichts als schmutzige Hände.
    Sie würde den Baum nicht fällen lassen. Sicher war es möglich, stattdessen die hinteren Fenster zu vergrößern. Gutes Glas war teuer, aber für eine Druckerei eine sinnvolle Investition.
    Erst als sie die Klinke hinunterdrückte, fiel ihr ein, dass sie den Schlüssel aus dem Kontor holen und die Tür zur Druckerei aufschließen musste. Doch die Tür gab nach und sie ertappte sich bei einem leisen Gefühl der Genugtuung: Cornelis Kloth hatte vergessen abzuschließen. Es war angenehm, einen fehlerlosen Mann bei einem Fehler zu ertappen.
    Der vordere Raum des Hinterhauses war düster, ihn erreichte das wenige Tageslicht, das die Kastanie hindurchließ, zuletzt, deshalb wurde er als Lager benutzt. Ihr Blick glitt über die Vorräte von Papier verschiedener Qualitäten, registrierte unwillkürlich die Zahl der Stapel und deren Höhe, die kleinen Tonnen mit Ruß und die Kannen mit Leinöl für die Druckerschwärze, glitt weiter über das Regal mit allerlei Gerätschaften, über die schweren Schürzen der Drucker an den Wandhaken, den langen, von Hockern umringten Holztisch für die Mittagspause.
    Die Tür zum hinteren, dem größeren Raum stand halb geöffnet. Sie schob sie ganz auf und stutzte. Die Angeln hatten immer ein bisschen gequietscht, nun bewegten sie sich geräuschlos. Cornelis musste sie in den letzten Tagen geölt haben.
    Noch stand die Sonne zu tief, um den Raum ganz zuerhellen. An der ersten der drei Pressen konnte den größten Teil des Jahres erst am Spätvormittag gearbeitet werden, doch durch die hinteren Fenster fiel schon das klare Licht des Morgens auf die schrägen Tische mit den Setzkästen und auf die anderen Pressen. Abrupt blieb sie stehen. Die Setzkästen? Die Tische waren leer. Wo waren die Setzkästen? Niemals in all den Jahren hatte sie die Tische leer gefunden. Rasch trat sie vor – und da sah sie es. Das konnte nicht sein, das war nur ein schlechter Traum, sie hatte viele Nächte kaum geschlafen, ihre überreizte Phantasie spielte ihr einen Streich. Es knirschte leise unter ihren Füßen und sie wusste, dass es doch wahr war.
    Weder die Theaterzettel für die Wanderkomödianten noch die Warenlisten des Konfitüren- und Spezereienhändlers am Schaarmarkt würden heute gedruckt werden, gar nichts würde unter die Pressen kommen. Auf den schwarzen Dielen vor den Tischen lagen die Kästen wie auf einem mattsilbernen Teppich aus Tausenden von Lettern.
    «Mein Gott!», flüsterte sie und sank auf die Knie. Mit flatternden Händen griff sie nach den Lettern, starrte auf ein großes C, fühlte ein winziges Y, fand einen Punkt und ein Fragezeichen – und ließ die kleinen Bleistücke mit den erhabenen Zeichen wieder
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