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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode
Autoren: Petra Oelker
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geschnittene Zettel. Er trug einen Rock aus dunkelblauem Samt, schwarze Kniehosen und weiße Strümpfe, die bei seinem Eintreffen sicher noch makellos gewesen waren, nun jedoch deutliche Spuren von schmutzigem Staub und Druckerschwärze zeigten. Dass ein einfacher Mann von der Wedde seiner Arbeit so aufgeputzt nachging, erstaunte sie. Sie hätte gerne darüber nachgesonnen, jeder Gedanke, der nichts mit Cornelis zu tun hatte, erschien in diesem Moment verlockend. Entschlossen zog sie ihr Schultertuch vor der Brust zusammen und sah den Weddemeister an.
    «Fragt», sagte sie, «ich will Euch alles sagen, wenn ich auch nicht weiß, was das sein könnte.»
    «Nun ja», sagte Wagner, «wir werden sehen.» Er wischteein letztes Mal seine glänzende Stirn und hielt endlich den Bleistift ruhig.
    Zuerst wollte er wissen, wie lange der Faktor für das Haus Boehlich gearbeitet hatte. «Aha», murmelte er, «acht Jahre. Eine lange Zeit.»
    «Nicht unbedingt», antwortete Luise, «Hachmann, unser Altgeselle, arbeitet fast vierzig Jahre bei uns. Das ist tatsächlich lange. Die beiden Setzer, lasst mich nachdenken, ich glaube, es sind achtzehn und zwölf oder dreizehn Jahre. Nur die beiden jüngeren Drucker und der Lehrjunge gehören kürzere Zeit als Cornelis zu unserem Haus. Und wenn Ihr mich nun fragen wollt, wer von uns ihn so gehasst hat, dass er, dass er   …»
    Sie stockte und der Weddemeister fragte: «Ihn getötet hat?»
    «Ja. Getötet hat. Das tat niemand. Der Faktor war tüchtig, zuverlässig, auch gerecht. Er war geachtet. Von allen. Nicht nur in unserem Haus, in der ganzen Stadt. Ihr werdet nirgendwo anderes hören.»
    Das Licht fiel nun hell durch das Fenster hinter ihrem Rücken in den Raum und ließ ihr schmales Gesicht wie aus grauem Marmor erscheinen. Nur ihre Augen leuchteten dunkel. Der Weddemeister beugte sich über seine Zettel und kritzelte ein paar Zeilen, von denen er wusste, dass er sie später nur mit Mühe würde entziffern können. Wie Cornelis Kloth wirklich gewesen war, würde er besser von den Männern erfahren, die jahrelang unter ihm gearbeitet hatten. Und die gewiss weniger geschickt mit der Sprache umzugehen verstanden als eine Madame Boehlich. Geachtet, hatte sie gesagt, ein Wort, das er bei seinen Ermittlungen oft hörte. Es wurde nur selten in Gesellschaft von ‹beliebt› genannt. Höchst selten.
    «Ihr seid heute Morgen schon vor allen anderen in der Druckerei gewesen und habt den Toten gefunden. Gewiss sehr unerfreulich, nun ja, tragisch. Was wolltet Ihr so früh in der Druckerei, Madame? Und warum war sonst noch niemand da?»
    Das akkurate Setzen und Drucken, erklärte sie, brauche Licht, deshalb beginne die Arbeit in der Druckerei später als bei den meisten anderen Gewerben, nämlich im Sommer um sieben, in den Wochen mit den besonders langen Tagen um die Sommersonnenwende eine halbe Stunde früher, in der dunklen Jahreszeit hingegen eine Stunde später.
    «Bei sehr eiligen Aufträgen, bei denen es weniger auf die absolute Akkuratesse ankommt als zum Beispiel beim Druck von Urkunden für den Senat oder die Commerzdeputation, wird notfalls auch bei Lampenlicht länger gearbeitet. Im Winter sogar ziemlich häufig, weil die Tage sonst allzu kurz sind.»
    «Zu kurz, gewiss», murmelte Wagner, unverdrossen kritzelnd. «Und Ihr seid immer morgens vor Euren Leuten in der Druckerei?»
    Luise schloss für einen Moment die Augen. Was wollte dieser Mensch nur alles wissen? Wozu war das wichtig?
    «Natürlich gehe ich an jedem Morgen in die Druckerei, seit ich für alles verantwortlich bin. Allerdings für gewöhnlich später. Cornelis war immer der Erste, er schloss die Druckerei am Morgen auf und am Abend ab. Als Faktor hatte er seit dem Tod meines Mannes einen eigenen Schlüssel.»
    Beinahe hätte sie ihm erzählt, wie wichtig es seitdem war, die richtige Balance in ihrem Verhalten zu finden. Sie musste zeigen, dass sie nun die Herrin des Hauseswar, auch dem Faktor. Gleichzeitig durfte sie seine Autorität nicht in Frage stellen. Wenn auch keiner der Männer in der Druckerei ihr den Respekt verweigerte, war sie nicht sicher, ob das so bleiben würde, wenn sie sich zu deutlich vor Cornelis drängte. Und weil sie wusste, dass es die kleinen Dinge sind, die die Menschen bewegen, überließ sie es ihm auch, am Morgen der Erste in der Druckerei zu sein. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie keine Sekunde an solche Gedanken verschwenden müssen. Aber sie war nun mal kein Mann. Während des letzten
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