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Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Titel: Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten
Autoren: Lenos Verlag
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ihre Bewegungsfreiheit einschränkten. Doch ihre Mutter hatte, mit Blick auf Faus’ unaufhörlich und unbändig wachsende Füsse, darauf bestanden, sie zu gross zu kaufen, damit sie sie auch im kommenden Jahr noch tragen könnte. Obwohl ihre Mutter einen vier Seiten langen Bildbericht aus der Zeitschrift Letzte Stunde gleichmässig verteilt in beide Schuhe vorne hineingestopft hatte, war das arme Geschöpf doch gezwungen, mit den Füssen auf dem Boden zu schlurfen, und nicht in der Lage, herumzutollen und zu springen, wie sie wollte. Dochdas drückte nicht eigentlich auf Faus’ Stimmung; sie blieb ausgesprochen heiter, und kaum waren sie in der Schule angekommen, da verliess sie alle und gesellte sich zu ihren Kameradinnen, die bei der Feier eine Musik- und Tanzdarbietung geben sollten.
    Ihre Familie und Chadîga gingen ihre Plätze einnehmen, doch kaum hatten sie sich hingesetzt, erhoben sie sich auch schon wieder; der Vorhang war aufgegangen, das Orchester spielte die Nationalhymne – »Aufgestiegen ist Ägyptens Adler, und hoch droben bleiben mög’ er ewig!« –, und ehrerbietige Stille herrschte zu Ehren der Republik. Nun trat der Ansager auf und erklärte, das Programm werde mit den edelsten und erhabensten Worten eingeleitet, woraufhin ein würdiger alter Mann erschien, sich auf einen hohen goldenen Sessel setzte, der auf der Bühne stand, und zu rezitieren begann: »Und welche von den Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen?« 5 Seine Stimme war so ergreifend, dass Faus’ Bruder seine Mutter mit dem Ellbogen anstiess und erstaunt fragte, ob Opa denn noch mal gestorben sei. Der zweite Punkt des Festprogramms bestand in der Ansprache der Direktorin der Schule, einer verdienstvollen Pädagogin, wie der Ansager erklärte, woraufhin die Verdienstvolle heraneilte, eine alte Dame, eine von denjenigen, denen aufgrund des Bildungs- und Schulgesetzes das Eheleben versagt geblieben war, da dieses Gesetz jungen Damen strengstens zu heiraten verbietet, andernfalls sie mit ihrer Entlassung rechnen müssten. Sie eilte heran, die Anwesenden zu begrüssenund ihnen zu danken und den Zweck der Feier ebenso darzulegen wie die bedeutende Rolle, die die Bildung in dieser entscheidenden Etappe im Leben des ägyptischen Volkes spiele. Dann kam sie auf ihr Hauptthema zu sprechen, beschimpfte den Imperialismus und den Zionismus und liess die tapfere Stadt Port Said hochleben, die dem verräterischen Tun dreier Staaten Widerstand geleistet hatte. 6 Als an diesem Punkt alle stürmisch Beifall klatschten, führte sie das, wiederholend, noch weiter aus, worauf die Leute nochmals klatschten. Als sie sich dann bittend an den Höchsten, den Allmächtigen wandte, er möge die Revolution und ihren Führer Gamal Abdel Nasser beschützen, wussten alle, dass die Ansprache ihrem Ende zuging, und die verdienstvolle Pädagogin enttäuschte sie nicht, denn sie sagte: »Friede sei mit euch und die Barmherzigkeit und der Segen Gottes«, worauf matter Beifall folgte und ein Gemurmel entstand, in das sich das Husten der Raucher und das Geschrei der Säuglinge mischten.
    Das legte sich auch nicht, als der Vorhang, kaum geschlossen, wieder aufging und Faus mit ihren Kameraden und Kameradinnen erschien, um zu singen: »Schweig, London, schweig, und lass Paris auch schweigen!« Da ihr Bruder den Rest des Liedes kannte und ebenso viele andere Kinder es schon gehört zu haben schienen, begleiteten sie lautstark dieSänger auf der Bühne: »Auf, bauen wir den Damm und fragen niemanden um Rat.« Da legte sich Heiterkeit und Freude auf die Gesichter der Leute. Die Augen von Faus’ Mutter füllten sich mit Tränen der Rührung und Ergriffenheit, während die Feier Punkt für Punkt ablief wie geprobt. Die Begeisterung der Leute loderte und erreichte ihren Höhepunkt, als ein kleines Mädchen mit tiefer Stimme sang: »Verräterischer Zionist … ich opfre meine Augen für Palästina.« Da klatschten die Männer, und die Frauen stiessen Jubeltriller aus, und Faus’ Vater begann im Sitzen heftig mit seinen Schenkeln zu zucken, wie er es in Augenblicken der Erregung gewöhnlich tat und was seinen Sohn, der neben ihm sass, verängstigte, da er sich kurze Augenblicke vorstellte, sein Vater wolle seine Mutter schlagen.
    Schliesslich kam der Moment der Preisverleihung. Alle schwiegen erwartungsvoll. Die Hälse reckten sich nach der Tür hinter der Bühne, wo die Frau Direktorin erscheinen würde, um die Namen der ausgezeichneten Schüler anzusagen und jedem
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