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Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Titel: Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Autoren: Susann Pásztor
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Andererseits: Das mag hier vielleicht ein Schullandheim sein, aber es ist doch nicht Guantanamo. In diesem Stil läuft ein Schlagabtausch in mir ab, den ich interessiert verfolge, bis ich mich selbst dabei erwische und zurück zum Atemzugzählen schicke. Wie Gerald uns gestern empfohlen hat, bin ich dabei freundlich, aber streng. Nein, das können unmöglich seine Worte gewesen sein. Was hat er gesagt? Weich, aber beharrlich? Liebevoll, aber hart? Mila, so geht das nicht. Für die Zeit bis zum Ende der Sitzung handle ich einen Kompromiss mit mir aus: Ich darf an etwas denken, aber nur an eine einzige Sache, und sie muss etwas mit Meditation zu tun haben. Meine Wahl fällt auf das Thema Sitzhaltung. Also modelliere ich im Geist mein Meditationskissen, bis es eine ergonomischere Form angenommen hat, und stelle mir eine Reihe weiterer Hilfsmittel zusammen, mit denen ich später am Vormittag meine Wirbelsäule und meine Knie entlasten kann. Ein unwürdiger Deal für eine, die demnächst Bodhidharmas Höhlenrekord brechen will, aber immerhin eine Lösung. Liebevoll, aber entschieden. Jetzt weiß ich es wieder.
    Meine heitere Grundstimmung bleibt mir auch beim Frühstück erhalten. Ich freue mich über den Kaffee, ich freue mich über jede einzelne Flocke in meinem Getreidebrei, und ich freue mich über die Liste an der Küchentür, auf der mein Name neben den Worten »Gartenarbeit/Laub harken« steht. Draußen ist es endlich hell geworden. Miss Marple sitzt wohlbehalten zwischen Gerald und dem Rastaman am Tisch und schiebt sich mit abgespreiztem kleinen Finger schmale Apfelschnitze in den Mund. Gerald hat seine Mahlzeit bereits beendet, er lehnt entspannt in seinem Stuhl und hat beide Hände auf seinen Buddhabauch gelegt. Was bringt einen dazu, Meditationslehrer zu werden? Ich versuche mir vorzustellen, wie Geralds Alltagsleben aussehen könnte. Familie, Kinder? Eher nicht. Sein Alter liegt irgendwo zwischen fünfzig und sechzig, man kann das bei seinem glatten, faltenlosen Gesicht schwer bestimmen. In diesem Moment hebt Gerald die Lider, und für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Blicke. Obwohl sein Gesicht völlig ausdruckslos bleibt, fühle ich mich durchschaut, auf frischer Tat ertappt beim Außermirsein, und dazu noch vom Lehrer. Ich warte ein wenig, damit es nicht wie eine Flucht aussieht, dann greife ich nach meinem Frühstücksgeschirr und gehe zum Spülbecken. Direkt nebenan liegt die Küche, ich höre hinter der geschlossenen Tür eine Frauenstimme lachen, dann sagt jemand: »Und wie soll ich bitteschön aus zwei verdammten Köpfen einen Salat für zwanzig Leute machen?«, und ich bin beruhigt, dass es immer noch ein normales Leben direkt neben diesem hier gibt.
    Die Heizung in unserem Zimmer ist längst wieder ausgedreht, aber darauf war ich vorbereitet. Ich will nur Handtuch und Waschzeug holen und bin schon wieder auf dem Weg zur Tür, als etwas Unerwartetes in meinem seitlichen Sichtfeld auftaucht. Dort, wo ich vorhin demonstrativ meine Packung mit den restlichen Ohrstöpseln liegen gelassen habe, ist eine zweite dazugekommen. Lydias Stöpsel sind quietschgrün. Man kann dieses Arrangement auf unterschiedliche Weise interpretieren, aber eines steht schon mal fest: Völlig humorfrei ist sie nicht, die Yogamutti.
    Als ich vom Duschen zurückkomme, ist es zwanzig nach acht, und mir bleibt noch über eine halbe Stunde bis zur nächsten Sitzung. Draußen hat sich der Frühnebel gelichtet und einen sonnigen Novembertag freigelegt. Ich könnte ein bisschen spazieren gehen, bis ich Empfang habe, und dann in meinem SMS-Eingang nach einer neuen belanglosen Nachricht suchen oder zumindest mein gestriges Sendeprojekt abschließen. Liebevoll, aber entschieden nehme ich meine Jacke vom Stuhl, lasse das Telefon, wo es ist, und gehe nach draußen.
    Natürlich bin ich nicht die Einzige, die auf die Idee mit der frischen Luft gekommen ist. Überall auf dem Gelände vor dem Haus sieht man einzelne Gestalten umherwandern oder einfach dastehen und ihr Gesicht in die Sonne halten. Mitten auf einem laubbedeckten Rasenstück steht ein Mann und macht etwas, das ich für Tai-Chi halte. Offenbar haben die Betreiber des Seminarzentrums versucht, einen kleinen Park unter den Buchen und Ahornbäumen anzulegen, aber sehr weit sind sie damit nicht gekommen. Alles sieht unfertig und improvisiert aus, als hätten sich ein paar Wochenendgäste beim Arbeitsdienst kurz mal einzubringen versucht und wären dann abgereist, und
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