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Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Titel: Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Autoren: Susann Pásztor
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Abendmeditation beginnt, bin ich die Letzte, die sich auf ihrem Kissen einfindet. Jemand hat die Vorhänge an den großen Fenstern zugezogen, und an Geralds Platz stehen ein paar brennende Kerzen. Nicht nur der Raum wirkt verändert, auch die Stille ist eine andere. Habe ich etwas verpasst? Gerald richtet eine Fernbedienung auf die Musikanlage, die hinter ihm steht, und aktiviert den CD-Spieler. Mir fällt ein, dass ich vorhin bei der Präsentation des Abendprogramms nicht zugehört habe.
    »Wir werden heute Abend das Shri-Ram-Mantra singen«, sagt Gerald. »Das ist ein sehr altes und starkes Heilungsmantra. Es existiert in unzähligen Versionen. Der Text ist sehr einfach: Shri Ram Jai Ram Jai Jai Ram Om . Ich möchte Sie einladen, mitzusingen und der Kraft eines Mantras zu vertrauen, das vom ewigen Sieg der Liebe handelt.«
    Ich bin unbedingt für den ewigen Sieg der Liebe, aber dass ich jetzt dafür singen soll, geht mir zu weit. Auch auf den Männergesichtern gegenüber meine ich Verunsicherung zu erkennen, während bei mir auf der Frauenseite eitel Freude herrscht. Singen!
    »Diejenigen unter Ihnen, die mit dieser Art von Gesang noch nicht vertraut sind«, fügt Gerald hinzu, »möchte ich ermutigen: Sie können überhaupt nichts verkehrt machen. Die Melodie lässt sich ganz leicht nachsingen.«
    Jetzt dringen zarte Gitarrenakkorde aus den Lautsprechern, dann folgen Trommeln und noch ein Instrument, das ich mir als indische Ziehharmonika vorstelle. Eine Männerstimme singt die erste Zeile, es hört sich an wie eine Kindermelodie, und ein Chor antwortet und wiederholt sie. Und nicht nur der Chor, auch die Mehrheit der Frauen neben mir fällt sofort begeistert ein, allen voran Miss Marple, die, wie ich beeindruckt feststelle, eine wunderschöne Altstimme hat. Na gut, Mädels, aber ohne mich. Die Melodie wird jetzt etwas komplizierter, der Sänger auf der CD singt kleine Schleifen hinein, die Frauen im Raum antworten mühelos, und auch von den Männern kommen jetzt ein paar zaghafte Jai-Jai-Rams. Mein Körper macht sich selbstständig und beginnt, rhythmisch vor und zurück zu schaukeln, dieser Opportunist, so leicht lässt er sich mitreißen. Ich beschwöre Erinnerungen an Konfirmandenfreizeiten mit christlichen Liedern am Lagerfeuer herauf, an Schlachtengesänge von betrunkenen Fußballfans, ans Schunkeln beim Karneval, aber mein Körper wiegt sich weiter wie in Trance, und auf einmal begreife ich, dass nicht er der Verräter ist, sondern ich. Seit wann habe ich mir eigentlich jedes unschuldige Mitmachen so rigoros verboten, und warum bloß?
    Das Lied dauert etwa eine Viertelstunde, dann schaltet Gerald die Anlage aus. Er schlägt behutsam gegen den Rand seiner Bronzeschale, und wieder bleibt der Ton lange Zeit im Raum stehen. Ich lausche ihm sehnsüchtig hinterher, filtere noch die feinsten Schwingungen heraus, als würde ich nach einem Lieblingsessen meinen Teller ablecken, aber irgendwann muss ich mir eingestehen, dass er endgültig verklungen ist, und mit der Stille kommt die Traurigkeit.
    Ich stelle in Gedanken eine Liste zusammen mit allen Beschränkungen, die ich mir im Lauf der Zeit auferlegt habe. Ich singe nicht, wenn andere singen. Ich tanze nicht gern, weil es albern aussieht. Ich spiele keine Gesellschaftsspiele. Ich schreie nicht. Jeder Vergewaltiger hätte leichtes Spiel mit mir, weil ich nicht imstande wäre, um Hilfe zu rufen. Ich applaudiere nicht. Wenn ich auf einer Toilette sitze und man mich hören könnte, pinkle ich vorsichtig gegen den Rand der Porzellanschüssel, um Geräusche zu vermeiden. Im Grunde genommen bin ich die personifizierte Stille. Ich vermeide sogar Ausrufezeichen, wenn ich etwas aufschreibe.
    Der Stuhl von Miss Marple zu meiner Linken knarzt ein wenig, als sie ihr Gewicht verlagert, und bringt mich zurück in die Gegenwart. Ich bemühe mich, statt meiner Defizite wieder meine Atemzüge zu zählen. Eins, zwei, drei, vier. Steht auf meiner Liste schon, dass ich auch beim Orgasmus nur dezentes Stöhnen von mir gebe? Fünf, sechs. Herrgott noch mal.
    Ich bin bei dreihundertachtundsechzig, als der Ton das Ende der Sitzung verkündet. Aber statt sich wie sonst zu erheben und im Trott der Gehmeditation durch den Raum zu schleichen, bleiben alle auf ihren Kissen sitzen, einige lehnen sich gegen die Wand und machen es sich mit ausgestreckten Beinen gemütlich. Wieder ein Programmpunkt, auf den ich nicht vorbereitet bin, aber offenbar dient er der Entspannung. Ich rutsche ein Stück
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