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Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Titel: Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Autoren: Susann Pásztor
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gehen.
    »Wenn der Gong ertönt«, sagt Gerald, und ich werde nie mehr erfahren, was er davor gesagt hat, denn jetzt nimmt er eine bronzene Klangschale, die fast so groß ist wie eine halbe Wassermelone und dennoch in seinen riesigen Händen ganz zerbrechlich wirkt. Er balanciert sie oben auf den dicken Fingern der linken Hand, während seine Rechte den Klöppel mit einer unfassbaren Mischung aus Präzision und Liebe an den Rand der Schale schlägt und ihr einen Ton entlockt, der so süß und rein ist und so lange im Raum schwebt, dass ich weinen könnte, wegen der Schönheit des Klangs und wegen der Hässlichkeit meiner Gedanken.
    Ich schließe meine Augen. Und jetzt? Irgendwie war das eine recht minimalistische Einführung, wenn man bedenkt, dass dies hier ein Anfängerkurs sein soll. Also dann. Atmen. Ich verfolge meinen Atem bis in die Lunge und wieder hinaus und weiß schon nach wenigen Zügen nicht mehr, wie Atmen überhaupt geht. Ich schnappe nach Luft, hechle und schnaufe. Noch einmal, ganz langsam. Wieder passiert dasselbe. Sobald mein Atem im Zentrum meiner Aufmerksamkeit steht, scheint er seinen Dienst zu verweigern, und ich bin offensichtlich nicht in der Lage, das Steuer zu übernehmen, wenn der Autopilot ausfällt. Soll ich ja auch gar nicht, fällt mir jetzt ein, ich bin ja die liebevolle Mutter, die ihrem Kind beim Ersticken zuschaut.
    Wenn ich zähle, geht es besser. Einatmen: eins, ausatmen: eins, einatmen: zwei, ausatmen: zwei, und bei zehn fange ich wieder von vorn an. Wie ich auf einmal bei dreiundzwanzig gelandet bin, kann ich mir nicht erklären. Dann doch lieber die simple Variante: Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Aus. Mein linkes Bein schläft ein. Mein linkes Bein schläft aus. Ich öffne meine Augen einen Spalt weit und bewege meinen Arm Millimeter für Millimeter nach vorn, bis die Armbanduhr in mein Blickfeld kommt. Es sind sieben Minuten seit dem Gong vergangen. Noch achtunddreißig Minuten bis zur Gehmeditation. Noch fünfundvierzig Stunden, bis ich wieder nach Hause fahren kann.
    Meine Augen wollen einfach nicht geschlossen bleiben. Der Drang, sie zu öffnen, ist unwiderstehlich. Also schön, von einem Sehverbot war schließlich nie die Rede. Vor mir sitzen acht Männer aufgereiht unter dem großen Panoramafenster, im abendlichen Gegenlicht sehen die Silhouetten ihrer Köpfe aus wie eine Skyline, die durch den höhergelegten Rastaman auf Platz fünf steil nach oben ausschlägt. Ich starre eine Weile auf dieses Szenario, dann schließe ich die Augen wieder und sehe ein türkisfarbenes Nachbild. Das habe ich als Kind oft gemacht, erst in helle Lichter geschaut und mich dann in den leuchtenden Welten hinter meinen geschlossenen Augenlidern verloren, bis sie sich in Schwärze auflösten. Ich warte, bis das Nachbild ganz verschwunden ist, dann öffne ich die Augen und will das Spiel wiederholen, aber jetzt langweilt mich die Aussicht. Ich blicke verstohlen nach rechts, wo Geralds Platz ist. Er sitzt mitnichten in vorbildlich vertikaler Ausrichtung da, sondern ein wenig zusammengesunken mit leicht seitwärts geneigtem Kopf und einem entrückten Gesichtsausdruck, als würde er Musik lauschen. Ich schließe schnell wieder die Augen, weil ich es plötzlich ungehörig und indiskret finde, ihn beim Meditieren zu beobachten.
    Mein linkes Bein ist inzwischen zu einem toten, kalten Fremdkörper geworden. Ich hebe es vorsichtig ein paar Millimeter an, bis ich glaube, dass wieder genügend Blut hineingeflossen ist, um wenigstens eine Grundversorgung zu gewährleisten. Jetzt kribbelt es, als würde ein aggressiver Akupunkteur Nadel um Nadel in meine Wade treiben. Zu meiner rechten Seite knurrt laut und vernehmlich der Magen von Namevergessen, und auch mein Magen hört es und stimmt begeistert ein. Zwei Stunden bis zum Abendessen, hat Gerald gesagt, und noch nicht einmal die erste ist vorbei. Ich könnte meinen Hunger betrachten statt meines Atems. Ich könnte ausrechnen, wie lange es dauert, bis das Muskel- und Fettgewebe meines rechten Beins endgültig abzusterben beginnt. Jetzt höre ich von weiter rechts ein leises Rascheln. Ich wende meinen Kopf zur Seite und sehe, wie eine Frau behutsam ihre Sitzposition verändert. Hurra, man darf sich doch bewegen! Ich brauche die Hilfe beider Hände, um mein betäubtes linkes Bein aufzurichten. Ich umschlinge meine Knie mit den Armen, dehne meine Lendenwirbel und bin glücklich über das Leben, das wieder ungehindert durch meine Adern strömt. Jetzt, wo es mir so gut
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