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Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Titel: Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Autoren: Susann Pásztor
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will ich dir anzünden,
die sollen leuchten dir.«
Da saß eine falsche Nonne,
die tat als wenn sie schlief.
Sie tat die Kerzen auslöschen,
der Jüngling ertrank so tief.
    Wo bitte war diese dämliche Königstochter, als die Kerzen ausgingen? War sie schnell noch mal nach Hause gegangen, sich umziehen? Meine Empörung hat sich über die Jahre prächtig gehalten. Dabei wäre es doch so einfach gewesen: Erst die Kerzen wieder anzünden, dann die Nonne ins Wasser werfen.
Ein Fischer wohl fischte lange,
bis er den Toten fand.
»Sieh da, du liebliche Jungfrau,
hast hier deinen Königssohn!«
    Ah, diese Strophe hat mich als Kind immer wahnsinnig gemacht, weil sich die zweite Zeile nicht auf die vierte reimte. Als hätte es da keine Alternativen gegeben, etwa »und sprach zu ihr voll Hohn«, Hohn auf Sohn, das passt doch wunderbar und erklärt gleich noch dieses gehässige »Sieh da, du liebliche Jungfrau«. Wie schön, ich bin schon fast wach. Ab hier könnte ich mich wieder mit der ersten Strophe zu quälen beginnen oder ein anderes Scheißlied finden. Aber mein Geist ist jetzt nicht mehr zu bremsen, er kennt die Spur, und die Worte reihen sich ganz ohne mein Zutun aneinander:
Sie nahm ihn in ihre Arme
und küsst’ ihm den bleichen Mund.
Es musste das Herz ihr brechen,
sie sank in den Tod zur Stund.
Da hörte man Glöcklein läuten,
da hörte man Jammer und Not.
Da lagen zwei Königskinder,
die waren beide tot.
    Ich könnte versuchen, mich an die verstimmte Wandergitarre zu erinnern, mit der uns Fräulein Neugebauer in der Vorschule zu diesem Lied begleitete, aber es klappt nicht. Stattdessen sehe ich sie vor mir liegen, die beiden, so dumm sind sie, so tot, und ich verstehe nicht, wie ich dieses Lied schon als kleines Mädchen mit solch hellseherischer Inbrunst habe hassen können, wo es doch fast noch ein Vierteljahrhundert dauern sollte, bis die Königseltern sich für immer in die Fluten legten, Hand in Hand, und ich falle, falle in die tiefen tuschetrüben Wasser meiner Vergangenheit, in die Bodenlosigkeit der Kränkung, die der Tod meiner Eltern mir zugefügt hat. Ich spüre, wie mir meine Tränen in den Pulloverausschnitt tropfen, ich wische den langen Rotzfaden aus meiner Nase mit dem Handrücken beiseite, es läuft sowieso gleich ein neuer hinterher, ich weine lautlos graubraunes Tuschewasser, und neben meinem linken Knie liegen plötzlich mehrere Papiertaschentücher. Namevergessen muss sie mir herübergeschoben haben, ich sehe den unscharfen Rest ihrer Zurückbewegung aus den Augenwinkeln. Ich halte mir eines der Tücher unter die Nase, kurz darauf ein zweites, mich zu schnäuzen wage ich nicht, weil ich der Stille dieses Geräusch nicht antun will. Es würde ohnehin nicht viel nützen. Hoch aufgerichtet sitze ich da, kein Schluchzer kommt über meine Lippen, kein Heulen und Zähneklappern, kein Zucken und Schütteln, und trotzdem meine ich, noch nie zuvor so tief und wahrhaftig geweint zu haben, aber das wird mir erst später bewusst, als der Strom längst wieder versiegt ist. Jetzt, hier, gibt es nur mich und die Kapitulation vor dem Schmerz.
    Geralds Klangschale beendet die zweite Sitzung, und der stille Fluss der Vorbeiziehenden nimmt mich auf. Ich tauche ein und lasse weiter fließen, was fließen will. Ein neuer Stapel Papiertücher liegt an meinem Platz, als ich ihn das nächste Mal passiere, und jetzt ist es eine Welle der Rührung, die mich überrollt. Auf der Höhe der Eingangstür schere ich aus und laufe zur Toilette, trinke am Waschbecken wie eine Irre und schaufle kaltes Wasser in mein erhitztes Gesicht. Der Blick in den Spiegel war keine gute Idee. Meine Augen sind kleine Sehschlitze, die Wangen verquollen und glühend rot, aber ich habe nicht die Kraft, mir gefallen zu wollen.
    In dieser Mischung aus Erschöpfung und Demut sitze ich die letzte Meditationsrunde an diesem Morgen aus. Mein Kopf dröhnt, mein rechtes Lid zuckt in unregelmäßigen Abständen, aber die dumpfe Leere in mir schluckt jedes Bild und jeden Gedanken, der mir zu nahe kommen will. Auch die Essenspause verbringe ich in diesem vernebelten Zustand. Ich verziehe mich in die hinterste Ecke des Raums, wo ich meine Suppe löffle und namenlose Dinge, die ich mir auf den Teller gelegt habe, kaue und herunterschlucke, ohne sie zu schmecken. Erst um ein Uhr, als ich draußen vor dem Haus in der Mittagssonne stehe und darauf warte, dass jemand kommt und mir weitere Instruktionen für meinen Arbeitseinsatz gibt, löst
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