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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Autoren: Annette Großbongardt
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immer schwieriger. Sie tragen gern Trachten, halten deutschsprachige Gottesdienste, doch die wenigsten von ihnen haben Deutsch zu Hause als Muttersprache gelernt. Sie engagieren sich für zweisprachige Ortsschilder, deutschen Schulunterricht und renovierte deutsche Denkmäler.
    Aber immer weniger junge Leute interessiert es, ob sie nun deutscher oder polnischer Herkunft sind. Auch aus Schlesien gehen Zehntausende zumindest auf Zeit zum Arbeiten in die Bundesrepublik, nach Großbritannien, Irland oder in die Niederlande. 1991, gleich nach der Wende, stimmten gut 132 000 Wähler für die Kandidaten der deutschen Minderheit, 2007 waren es nur noch rund 32 000.
    Die Lage ist ernst, das sieht auch Norbert Rasch: »In Zeiten der Globalisierung ist es nicht mehr in, sich zu seiner Heimat zu bekennen.« Rasch ist ein Schlaks von 1,90 Meter. Er sitzt in seinem Büro nahe der hübschen Oppelner Altstadt, seine deutschstämmigen Angestellten sprechen Polnisch untereinander. Rasch trägt einen lässigen Pullover und hat hinter sich drei Flaggen aufgepflanzt: die deutsche, die
polnische, die europäische, alle gleich groß, alle dicht beieinander. Er hat an der neuen Oppelner Universität Germanistik studiert, zwei Semester hat er in Kiel und Mainz verbracht und dort erst richtig Deutsch gelernt. Sein Akzent ist kaum hörbar, selten macht er Fehler, meist sind es buchstabengenaue Übersetzungen vom Polnischen ins Deutsche, beispielsweise sagt er einmal »abgesondert«, meint aber »besonders«. »Im Polnischen gibt es kein Wort für Heimat, nur für das Vaterland«, sagt er. »Aber darum geht es uns gar nicht. Wir pflegen keine bundesrepublikanische Identität, unsere Identität ist regional, ist schlesisch.«
    Die Region zwischen Oder und Sudeten war stets multiethnisch, seit Jahrhunderten sprechen sie hier Deutsch, Tschechisch, Wasserpolnisch und Hochpolnisch – viele beherrschen mehr als eins davon, und das hat die Menschen hier immer schon verwirrt. Sind sie nun Polen? Tschechen oder Deutsche? Oder doch Schlesier? Das haben immerhin auch 170 000 in der Volkszählung 2002 angekreuzt, und jetzt kämpft eine »Autonomiebewegung Schlesiens« dafür, wie die Deutschen als nationale Minderheit anerkannt zu werden. »Wir pflegen unsere Kultur und gute Nachbarschaft mit allen, die hier auch leben, wir sehen unser Deutschsein auf keinen Fall als Konkurrenz zum Polentum«, sagt Rasch.
    Das schlesische Gebiet wurde zunächst von Skythen und Kelten besiedelt, später von germanischen Wandalen erobert, denen slawische Stämme folgten. 1138 entstand das Teilfürstentum Schlesien unter der Herrschaft der Piasten, einem Herrschergeschlecht, das heute als polnisch gilt, obwohl damals noch niemand in nationalen Kategorien dachte.
    Um 1740 eroberte Friedrich II. große Teile Oberschlesiens. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs blieb dieser Landstrich preußische Provinz. 1918 wurde das geteilte Polen wiedererrichtet, die Alliierten hatten beschlossen, die »von
unbestreitbar polnischer Bevölkerung bewohnten Gebiete« dem neuen, alten Staat zuzuschlagen. Doch wo lagen die eigentlich? Vor allem Oberschlesien war ein deutsch-polnischer Flickenteppich. Also beschlossen die Siegermächte eine Volksabstimmung. 59,6 Prozent der Schlesier stimmten 1921 für den Verbleib bei Deutschland, 40,4 Prozent wollten nach Polen. Der östliche Teil Oberschlesiens ging an Warschau, der Westen, auch das Oppelner Land, blieben im Reich. 1939 überfielen Hitlers Truppen Polen und verleibten das ganze Schlesien wieder Deutschland ein.
    Die Alliierten beschlossen in Jalta, Polen nach dem Krieg wiederherzustellen. Doch Stalin beanspruchte den Osten des Landes, und so wurde Polen kurzerhand nach Westen verlegt und mit Pommern, Schlesien und Südostpreußen entschädigt, die vorher zu Deutschland gehört hatten. Das Oppelner Land wurde polnisch.
    Ein Großteil der drei Millionen Deutschen in Schlesien floh schon vor der vorrückenden Roten Armee. Zehntausende verhungerten, starben an Krankheiten oder fielen Racheakten der Sowjettruppen zum Opfer. Auch wer die chaotische Flucht im Winter 1944/45 nicht antrat, musste um sein Leben fürchten. Die polnischen Behörden schoben die Deutschen massenweise und in Viehwaggons ab. Zuvor pferchten sie sie in Lagern zusammen, nicht selten in solchen, die die Nazis zuvor gebaut hatten, um Polen einzusperren. In Lamsdorf, heute Lambinowice, 40 Kilometer von Oppeln entfernt, saßen zwischen 1945 und 1946 schätzungsweise 5000 Deutsche
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