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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Autoren: Gernot Gricksch
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Bilder Erinnerungen sind oder nur die mentale Illustration einer alten, oft wiedergekäuten Anekdote. So wie die Sache mit meinem Papa, dem Klo und der Entbindungsklinik eben. Aber natürlich habe ich Erinnerungen, echte Erinnerungen.
    Ich erinnere mich zum Beispiel an Frau Mastenfeld. Frau Mastenfeld war meine Kindergärtnerin. Ein Koloss von Frau! Erwachsene wirken auf Vierjährige natürlich immer riesig – aber Frau Mastenfeld war ein wahrer Titan. Hier ist das Bild, dass in meinem Gehirn klebt und wahrscheinlich irgendwann, wenn der Alzheimer meine Festplatte nahezu vollständig gelöscht haben wird, noch übrig sein dürfte: Frau Mastenfeld in ihrem Messerschmitt-Kabinenroller! Der Kabinenroller war meines Wissens das einzige Auto aller Zeiten, das nur drei Räder hatte – zwei vorne, eines hinten. Und das Ding war klein! Kleiner als Frau Mastenfeld jedenfalls. Jeden Tag, Punkt ein Uhr, standen wir Kindergartenkinder sorgfältig nach unserem Alter sortiert in Zweierreihen auf dem Hof, sangen irgendein Lied übers Nachhausegehen, und Frau Mastenfeld stieg dabei in dieses radknappe, kleine Gefährt. Nein, sie stieg nicht ein – sie zwängte und presste sich in den Kabinenroller. Wie eine Wurst, die zurück in die Pelle will. Aus dem auch im Winter geöffneten Seitenfenster quollen viele Ächzer und Umphs, später schließlich ihr fleischiger Arm und Teile ihres beträchtlichen Oberkörpers. Nachdem wir Kinder die letzte Strophe hinter uns gebracht haben, hupte Frau Mastenfeld einmal und knatterte von dannen. Direkt zur nächsten Imbissbude, vermute ich.
    Das ist es, was von meinen drei Kindergartenjahren noch übrig ist: die fette Frau Mastenfeld in ihrem Kabineroller. Ich erinnere mich nicht daran, mit irgendeinem Kind gespielt zu haben, ich erinnere mich nicht an Bastelstunden, Märchenbücher oder sonst was. Ich erinnere mich nur daran, dass ich zum Begleitchor von Frau Mastenfelds täglichem großem Abgang gehörte. Das lässt den Rückschluss zu, dass ich im Kindergarten nicht allzu viel Spaß hatte.
    Ich erinnere mich aber auch an nette Dinge aus meiner Kleinkindzeit: an Ausflüge ans Meer; daran, dass meine Eltern mich als Vierjährigen in der Silvesternacht weckten und ich mir, auf Papas Arm, dichtgepresst an seine Schulter, das Feuerwerk anschauen und meine erste Wunderkerze halten durfte; ich erinnere mich an meinen ersten Kinderteller bei meinem ersten Restaurantbesuch, einem kleinen Dorfgasthof in der Lüneburger Heide – Schnitzel, Kartoffeln und Erbsen. Speziell die Erbsen hatten es mir angetan. Ich bin noch heute verrückt nach Erbsen. Manchmal frage ich mich, ob ich Erbsen so liebe, weil ich damals einen so schönen Tag hatte. Oder ob ich damals einen so schönen Tag hatte, weil ich herausfand, dass ich Erbsen liebe. Ich würde jedenfalls niemanden je als Erbsenzähler beschimpfen – für mich klingt das wie eine sehr hübsche, beruhigende Tätigkeit.
    Und ich erinnere mich natürlich an all die kleinen Abenteuer mit Sven. Jeden Tag, wenn ich aus dem Kindergarten kam, ließ ich mich eiligst von meiner Mutter abfüttern, dackelte zu Sven hinüber, klingelte und begab mich dann mit ihm auf eine neue Expedition. Wir waren wie Brüder. Obwohl ich vermute, dass Brüder sich häufiger streiten, als wir es taten. Wir waren immer einer Meinung – das heißt, wir waren immer meiner Meinung. Für Sven, die Sanftmut in Person, gab es nichts, was wichtig genug gewesen wäre, um einen Missklang in unsere perfekte Jungenfreundschaft zu bringen. Ich gab die Anordnungen – Sven führte sie aus. Ich war zufrieden, und deshalb war er es auch: Ich war der große Zauberer auf dem Weg zur Höhle des fiesen Drachen – Sven war mein Gehilfe. Ich war der Cowboy, der vierzig Gangster überwältigte – er war mein Pferd. Ich war Tarzan – er war Cheetah.
    Nie, nicht ein einziges Mal, durfte Sven die Heldentaten begehen. Natürlich war das widerlich von mir – aber, hey , ich war ein Kleinkind! Und, keine Angst: Sven wird Jahre später zurückschlagen! Er wird etwas finden, was ihm wirklich wichtig ist. Wichtiger als meine gönnerhafte Zuneigung. Und er wird mich damit an den Rand des Wahnsinns treiben.
    Fünf Jahre bestand die ganze Welt nur aus Sven und mir. Alle anderen Kinder konnten uns mal kreuzweise. Bis zu dem Tag, als Petra in unsere Straße zog. Petra war anders. Petra war ein Mensch, an dem man nicht vorbeikam.

1965
    E s war ein Samstag, als Petra zum ersten Mal auf unserem Spielplatz
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