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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Autoren: Gernot Gricksch
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gerückt, als wolle sie seinen Schoß besteigen. Sie hatte wieder diesen leicht säuerlichen Atem, da sie es sich nicht nehmen ließ, stets einen Spritzer Zitronensaft in ihren Schnaps zu träufeln. Für Irmhild war dieser Spritzer der ganz persönliche Hauch des Mondänen. Wenn es tatsächlich etwas geben sollte, was noch dichter an einen Cocktail herankam als Korn mit Zitrone, dann übertraf es auf jeden Fall Irmhilds Vorstellungskraft.
    »Wie soll’s denn heißen?«, lächelte sie Hubert an.  
    »Beate, wenn’s ’n Mädchen wird. Und Bernhard beim Jungen!«, sagte Hubert sichtlich stolz, war das doch immerhin das Ergebnis einer fast zweistündigen, ausgesprochen hitzigen Diskussion.
    »Bernhard. Guter Name. Kräftiger Name«, brummte der Dicke.
    Als das Telefon klingelte, waren sie alle schlagartig still. Der Tresenmann nahm ab, horchte ein paar Sekunden, grinste breit und sagte: »Glückwunsch!«, bevor er Hubert heranwinkte.
    Hubert schnappte sich den Hörer: »Karola? Ja? Was isses? Ha!« Hubert strahlte. »Ja, ich komme. Ich fahr’ gleich los.«
    Er legte auf und kehrte zu seinen Freunden zurück. »Is’n Junge! Ich hab’n Sohn!«
    Der Dicke klopfte ihm einmal mehr auf die Schulter und Irmhild drückte ihm einen ihrer berüchtigten nassen Küsse auf die Wange. »Glückwunsch!«
    » Ich fahr’ jetzt mal los«, grinste Hubert und zog sich seine Jacke an. Der Tresenmann wühlte in einem der Regale herum und förderte eine Flasche Sekt hervor. Söhnlein brillant . Wie passend. Er stellte sie vor Hubert auf den Tresen: »Hier. Zum Anstoßen. Musste nur an den Schwestern vorbeischmuggeln!«
    Hubert wehrte die angebotene Flache mit erhobener Hand ab. »Karola hat gesagt, wenn das Kind da ist, ist Schluss mit Saufen. Sie sagt, sie trinkt nix mehr. Mütter müssen nüchtern sein, sagt sie!« Hubert sah seine Freunde fast entschuldigend an.
    Der Dicke lachte. Irmhild versuchte, ihr Gesicht so neutral wie möglich zu halten. Der Tresenmann stellte die Flasche zurück ins Regal. »Ich heb’se euch auf. Wenn Karola sich das anders überlegt.«
    * * *
    Wir alle wurden im Jahre 1960 geboren. Es war kein schlechtes Jahr. John F. Kennedy wurde Präsident der Vereinigten Staaten, Hitchcock ließ Janet Leigh in Psycho unter der Dusche ermorden und Real Madrid gewann zum fünften Mal hintereinander den Europapokal der Landesmeister. Es war auch das Jahr, in dem die Antibabypille für den deutschen Markt zugelassen wurde. Für unsere Eltern kam sie also zu spät. Schwein gehabt, sage ich jetzt einfach mal.
    Unsere Geburtsstadt war Hamburg. Wer jetzt an den Hafen, die Reeperbahn oder andere markante Plätze denkt, liegt allerdings falsch. Unser Kindheitsterritorium hieß Farmsen-Berne – ein Stadtteil im Nordosten, nur eine läppische, zwanzigminütige U-Bahnfahrt von der trubelnden Innenstadt entfernt und doch schon ein Diaspora des Banalen. Hier lebte die gehobene Arbeiter- und die niedere Angestelltenschaft der Stadt. Wir waren nicht mal ansatzweise so edel wie die Pfeffersäcke an der Elbchaussee, aber auch nicht so plakativ proletarisch wie die Malocher von St. Pauli und Altona. Wir waren nicht mal verachtenswerte Vorstädter. Wir waren einfach nur Durchschnitt. Eigentlich hätte bei uns in Farmsen-Berne jeder zweitgeborene Säugling ohne Beine zur Welt kommen müssen, da die hamburgische Durchschnittsfamilie eben nur 1,7 Kinder ihr Eigen nannte.
    Damals, 1960, war es uns natürlich schnurz, in welchem Stadtteil wir vor uns hinsabberten. Wenn Babys durch ein Zimmer robben, knallen sie mit dem Kopf am Ende nicht gegen eine Stadtgrenze, sondern gegen einen Türrahmen. Das ist in Famsen-Berne nicht anders als in New York, Jakarta oder Rio de Janeiro.
    Von uns sechsen kannten Sven und ich uns als Erstes. Was einfach daran lag, dass Svens Eltern nur drei Reihenhaus-Eingänge von unserem entfernt wohnten. Unsere Eltern mochten sich und spielten abends zusammen Canasta. Sven und ich lagen derweil nebeneinander im Laufstall, hauten uns Holzspielzeug auf den Kopf und drückten turnusmäßig unsere Knödel in die Windel. Niemand konnte damals ahnen, dass wir beide immer Freunde bleiben würden. Und niemand konnte ahnen, dass ich meinen Freund Sven Jahre später beinahe ermorden würde.

    Ich versuche oft herauszufinden, was meine früheste Kindheitserinnerung ist. Es gelingt mir nicht. Das Problem ist, dass ich manche Geschichten so oft gehört habe, dass ich sie leibhaftig vor mir sehe und einfach nicht weiß, ob diese
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