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Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)

Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)

Titel: Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)
Autoren: John Connolly
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damit man sie leichter wegtragen konnte. Es war merkwürdig, dachte er, dass man ausgerechnet den erlesenen Kopf des Mädchens übersehen hatte. Aber vielleicht hatten sich diejenigen, die sie zerschmetterten, damit begnügt, dass ihr Körper zerstört und die Welt um eine Schönheit ärmer geworden war.
    Das Ausmaß der Zerstörung war unfassbar. Die Vase von Warka, ein etwa aus dem Jahr 3500 vor Christus stammendes Meisterwerk der sumerischen Kunst und damit das älteste mit einem Relief verzierte Ritualgefäß der Welt, war verschwunden, über dem Fuß abgeschlagen. Eine herrliche, mit einem Stierkopf verzierte Leier war ihres Goldes beraubt worden. Die Bassetki-Statue: verschwunden. Die Statue von Entema: verschwunden. Die Warka-Maske, eine der ersten naturgetreuen Darstellungen eines menschlichen Antlitzes: verschwunden. Er lief durch einen Raum nach dem anderen und ersetzte all die verlorenen Schätze durch Phantasmagorien, Trugbilder ihrer selbst – hier ein Elfenbeinsiegel, dort eine mit Edelsteinen besetzte Krone –, so dass alles, was sich hier einst befunden hatte, das derzeitige Trümmerfeld überlagerte. Selbst jetzt, da er schier betäubt war angesichts der Schäden, katalogisierte Dr. Al-Daini in Gedanken bereits die Sammlung und versuchte sich an Alter und Herkunft eines jeden kostbaren Reliktes zu entsinnen, für den Fall, dass die Aufzeichnungen des Museums nicht mehr zur Verfügung stehen sollten, wenn sie sich an die scheinbar unmögliche Aufgabe machten, die geraubten Gegenstände wiederzuerlangen.
    Relikte.
    Dr. Al-Daini blieb stehen. Er wankte leicht und schloss die Augen. Ein vorbeigehender Soldat fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, und bot ihm Wasser an, eine kleine, freundliche Geste, die Dr. Al-Daini nicht würdigen konnte, weil er zu aufgewühlt war. Stattdessen drehte er sich zu dem Soldaten um und ergriff seinen Arm, eine Bewegung, die seinem Kummer auf der Stelle ein Ende hätte bereiten können, wenn der Soldat den Finger am Abzug seines Gewehrs gehabt hätte.
    »Ich bin Dr. Mufid Al-Daini«, erklärte er dem Soldaten. »Ich bin zweiter Kurator im hiesigen Museum. Bitte, ich brauche Ihre Hilfe. Ich muss in den Keller. Ich muss etwas überprüfen. Es ist sehr, sehr wichtig. Sie müssen mir helfen, damit ich durchkomme.«
    Er deutete auf die Silhouetten der bewaffneten Männer vor ihnen, beige Gestalten im dunklen Gang. Der junge Mann neben ihm wirkte unschlüssig, dann zuckte er die Achseln.
    »Sie müssen aber erst meine Schulter loslassen, Sir«, sagte er. Er konnte nicht älter als zwanzig, einundzwanzig sein, doch er hatte etwas Selbstsicheres an sich, eine Unbefangenheit, die eher zu einem älteren Mann gepasst hätte.
    Dr. Al-Daini trat einen Schritt zurück und entschuldigte sich für seine Dreistigkeit. Auf dem Namensschild an der Uniform des Soldaten stand »Patchett«.
    »Können Sie sich ausweisen?«, fragte Patchett.
    Dr. Al-Daini zückte seinen Dienstausweis, doch der war in arabischer Schrift ausgestellt. Er suchte in seiner Brieftasche, fand eine Visitenkarte, die auf der einen Seite arabisch, auf der anderen englisch beschriftet war, und reichte sie ihm. Patchett blinzelte leicht im schwachen Licht, als er sie betrachtete, dann gab er sie zurück.
    »Okay, mal sehen, was wir tun können«, meinte er.
    Dr. Al-Daini bekleidete zwei Posten im Museum. Er war sowohl zweiter Kurator für die römischen Sammlungen, ein Titel, der weder der Bandbreite seines Wissens noch der zusätzlichen Aufgabe gerecht wurde, die er inoffiziell und ohne Vergütung übernommen hatte, denn er war außerdem noch Kurator der noch nicht katalogisierten Gegenstände, eine weitere Berufsbezeichnung, die nur andeutungsweise verriet, welche Herkulesarbeit damit verbunden war. Das Katalogisierungssystem des Museums war sowohl altmodisch als auch umständlich, und es gab Zehntausende von Gegenständen, die noch nicht erfasst waren. Ein Teil des Museumskellers bestand aus einem Labyrinth von Regalen voller Artefakte, teils in Kisten verpackt, teils nicht. Die Mehrzahl davon beziehungsweise der winzige Bruchteil, der von Dr. Al-Daini und seinen Vorgängern katalogisiert worden war, war nur von geringem Geldwert, doch jedes einzelne war ein wichtiges Forschungsobjekt, die Hinterlassenschaft einer Kultur, die sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte oder gänzlich untergegangen war. In vielerlei Hinsicht war dieser Keller der Teil des Museums, den Dr. Al-Daini am meisten schätzte, denn wer
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