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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Autoren: Alexander Pechmann
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durchziehen, waren wohl Teil der geschickten Selbstinszenierung eines Mannes, der einen gewissen Hang zum Theatralischen nicht verleugnen konnte. Schon nach dem frühen und überwältigenden Erfolg der ersten Gesänge seines Versepos »Childe Harold’s Pilgrimage« (»Childe Harolds Pilgerfahrt«) hatte Byron mit Verwunderung und Vergnügen festgestellt, wie sehr ihn das Publikum mit dem von Weltschmerz und ungeklärter Schuld getriebenen Helden seiner Dichtung identifizierte. Bereitwillig spielte er fortan den lasterhaften Dandy, den jugendlichen Rebellen und ließ sich, dem Wunsch der Porträtmaler folgend, mit offener Hemdbrust und zerzaustem Haar darstellen. Nicht ohne Selbstironie nahm er zur Kenntnis, dass die Jünglinge auf Londons Straßen den wild-romantischen Byron-Look imitierten. Doch unter der Kunstfigur verbarg sich ein widersprüchlicher, manchmal überraschend konservativer Charakter, den auch die zahlreichen modernen Biographien nicht gänzlich erklären können.
       Wenn Byrons Leben auch gern als sein größtes Werk bezeichnet wird, so ist unter all seinen Dichtungen sein »Don Juan« das eigentliche Meisterstück. Die Ironie und Leichtigkeit dieses unvollendeten Epos ist unübertroffen und führt dennoch von den turbu lenten Abenteuern und Liebesgeschichten immer wieder zurück in den Abgrund menschlichen Elends und Leids:

    Die Toten selber sind des Todes Raub;
Grab folgt auf Grab, bis eine ganze Zeit
Begraben unter ihrem welken Laub,
Versinkt in ewige Vergessenheit.
Was gestern Denkmal war, ist morgen Staub;
Nur wen’ge ragen aus der Dunkelheit,
Wo Myriaden einst benamter Wesen,
Nun namenlos, nicht einmal mehr verwesen.

    Mary und Shelley

    I m August des Jahres 1814 beschloss ein junger, unglücklich verheirateter Dichter namens Percy Bysshe Shelley, die anarchistischen Theorien seines Mentors William Godwin, die sich gegen Kirche, Staat und Ehe richteten, wörtlich zu nehmen. Er entführte Godwins Tochter Mary und floh mit ihr und ihrer Stiefschwester Claire Clairmont aus England. Die abenteuerliche Reise führte die drei Ausreißer quer durch das von den Napoleonischen Kriegen verwüstete Frankreich in die Schweiz, wo der idealistische Percy ein »Paradies in den Bergen« zu finden hoffte. Er schrieb seiner Ehefrau einen freundlichen Brief, in dem er sie einlud, ihm und seiner Geliebten zu folgen. Ein verwegener Plan, der sich als unrealisierbar erwies. Es fehlte an den nötigen Geldmitteln, denn niemand hatte bedacht, dass der Eingang ins Paradies nicht umsonst war. Enttäuscht verließ das Trio die erhabene Alpenlandschaft und machte sich niedergeschlagen auf den strapaziösen Heimweg.
       Das erste Buch Mary Godwins, »History of a Six Weeks’ Tour« (»Flucht aus England«), berichtete von dieser ungewöhnlichen Reise, als sei sie ein munterer Spaziergang gewesen. Aus den Tagebüchern erfahren wir allerdings einiges über die tatsächlichen Umstände: schmutzige Unterkünfte, in denen Ratten herrschten, primitive Landbewohner, endlose Fußmärsche in da für völlig ungeeigneten Stadtkleidern. Immerhin sollte die bald so erfolgreiche Autorin viele der Erfahrungen in ihren Werken nutzbar machen. Als sie mit Claire und Percy durch Frankreich und Deutschland in die Schweiz wanderte, arbeitete sie bereits an einer ersten Erzählung mit dem Titel »Hate« (»Hass«). Inspiriert wurde sie möglicherweise durch eine Begegnung mit drei Studenten der Straßburger Universität, die Mary in den Tagebüchern festgehalten hatte: »Schwitz, ein recht gutaussehender, gutgelaunter junger Mann; Hoff, eine Art unförmiges Wesen, mit schweren, häßlichen, deutschen Gesichtszügen; und Schneider, der beinahe ein Idiot war, und dem seine Kameraden ständig tausenderlei Streiche spielten.«
       Die Erzählung gilt bis heute als verschollen. Genauso wie Marys frühe Schreibversuche, die sie zusammen mit einigen Briefen in einem Holzkästchen aufbewahrte. Dieses Kästchen wird in Percy Shelleys Tagebuch erwähnt. Am 2. August 1814 sahen Mary und Shelley die darin enthaltenen Papiere gemeinsam durch, und Mary versprach ihrem Geliebten, er dürfe alle ihre Arbeiten lesen und studieren. Percy verschob die aufmerksame Lektüre auf einen späteren Zeitpunkt, doch weder die Texte noch das Holzkästchen werden je wieder erwähnt. Offenbar wurde alles in dem Pariser Hôtel de Vienne vergessen. Ein schmerzlicher Verlust für eine junge Schriftstellerin, doch Mary verlor ihr Leben lang kein Wort über diesen
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