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Die Bibliothek der Schatten Roman

Die Bibliothek der Schatten Roman

Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman
Autoren: Mikkel Birkegaard
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hatte sich versteift, in seinen Mundwinkeln stand Schaum, und aus seinem Mund kam nur noch hitziges Fauchen. Katherina lief zu ihm, wagte es aber nicht, seinen Körper zu berühren, der haltlos zu zittern begann. Sein leerer, starrer Blick hatte sich von den Buchseiten gelöst und war an die Decke gerichtet. Aus dem einen Nasenloch suchte sich ein Blutstropfen einen Weg zum Mundwinkel.
    »Henning!«, rief Katherina panisch. »Kannst du mich hören?« In seinen Augen war keine Reaktion zu erkennen.
    Katherina wusste nicht, was sie tun sollte. Am liebsten hätte sie die Arme um ihn geschlungen und ihn festgehalten, traute sich aber nicht. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Mit den Händen an den Wangen trat sie einen Schritt zurück, ohne den Blick von Henning zu wenden.
    Plötzlich ließ das Zittern nach, und in Hennings Gesicht kehrte ein menschlicher Ausdruck zurück. Er schloss die Augen und sackte auf dem Stuhl zusammen.

    Muhammed ging zögernd zu ihm und untersuchte sein Gesicht, ehe er ihm die Finger an die Halsschlagader legte. Nach ein paar Sekunden zog er seufzend die Hand weg.
    »Er ist tot«, stellte er fest und blickte auf seine Hände.
     
    Auf dem Friedhof regnete es. Nach der Dunkelheit der Flashback-Szene war das richtig erfrischend. Der Benzingestank wurde vom Duft nasser Gräser und Blumen verdrängt.
    »Wow«, rief Remer. »Was für ein hübsches Intermezzo.«
    Schon wieder tauchte ein grauer Schatten auf und nahm Form an.
    Remer lächelte.
    »Jetzt geben Sie schon auf, Campelli. Inzwischen sind wir acht gegen einen.«
    Sein Lächeln erstarrte unvermittelt, er zog die Brauen hoch.
    Der Neuankömmling war Henning.
    Wie alle anderen sah er sich erstaunt um.
    »Henning!«, rief Jon erleichtert.
    Der junge Mann musste sich erst einmal orientieren, ehe er Jon entdeckte.
    »Jon«, sagte er. »Bist du es wirklich?«
    Remer stieß einen wütenden Schrei aus und streckte die Arme in Hennings Richtung aus. Plötzlich erhob sich ein kräftiger Wind.
    »Ignorier es einfach, Henning!«, schrie Jon. »Das ist nicht wirklich. Konzentrier dich.«
    Henning starrte unschlüssig auf seine Füße. Der Wind wurde kräftiger und legte sich wie ein Wirbelsturm schlauchartig um ihn, bis er ganz eingeschlossen war. Erdklumpen und Blätter wirbelten ihm in wachsendem Tempo um die Ohren.
    »Katherina«, rief er. »Sie ist…« Der Sturm riss seine Worte fort. »Blitz … muss zurück … raus …« Panik breitete sich auf seinem Gesicht aus.
    Jon versuchte, den Tornado zu neutralisieren, aber Remers
Unterstützer sorgten dafür, dass er immer kräftiger wurde und immer schneller rotierte. Jon versuchte, die Bahn zu ändern, aber es tat sich nichts. Hennings Gestalt verblasste. Seine Rufe unterschieden sich nicht mehr vom Rauschen des Sturms, und die Konturen seines Körpers wurden immer vager. Am Ende war er nicht mehr zu erkennen, entschwunden im Auge des Sturms.
    Der Wirbelsturm brach abrupt ab, und die Steine, Blätter und Erdklumpen, die er durch die Luft geschleudert hatte, regneten auf den Boden herab. Henning war weg.
    Remer untersuchte interessiert das kleine Erdhäuflein, das an der Stelle lag, wo Henning gestanden hatte.
    »Ich glaube, Sie haben Recht, Campelli«, meinte er. »Es ist eine Frage des Glaubens.« Er lächelte. »Aber warten Sie’s ab, das Beste steht uns noch bevor.«
    Wieder änderte sich die Szenerie, Blitze zuckten über den Himmel, und es begann zu regnen, zuerst große, schwere Tropfen, danach kleinere Wassermeteoriten, in immer schnellerem Tempo. Jon konnte zusehen, wie das Gras wuchs und die Friedhofsmauer sich verschob, um neuen Reihen von Grabsteinen und weißen Kreuzen unter bleigrauen Wolken Platz zu machen.
    Remer lachte, in seine Stimme hatte sich ein manischer Unterton geschlichen.
    »Nichts kann uns aufhalten!«
    Der Detailreichtum schien zu explodieren, Jon spürte die Feinstruktur der Baumrinde, das mikroskopische Pilzgeflecht auf den Oberflächen der Grabsteine, das Gewimmel in der Erde unter den Steinen und die Feuchtigkeit, die sich in den Kerben der Grabsteine festsetzte. Er konnte so viel auf einmal gar nicht verarbeiten, die Eindrücke überschwemmten ihn und füllten seinen Kopf, er war kurz davor, ohnmächtig zu werden.
    Einer von Remers Ordensbrüdern sank auf die Knie und
presste die Hände an den Kopf. Er begann zu schreien, und die Umrisse seines Körpers verblassten nach und nach. Während sich seine Moleküle voneinander lösten und ihn in eine
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