Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
nicht?«
    Misard sah ihn starr an, dann sagte er:
    »Ihr wißt, wo sie sind. Sagt es mir.«
    Der Lokomotivführer ärgerte sich.
    »Ich weiß garnichts. Tante Phasie hat mir nichtsgegeben, Ihr werdet mich doch hoffentlich nicht des Diebstahls beschuldigen?«
    »Sie hat Euch nichts gegeben, das glaube ich auch. Aber Ihr seht, wie krank ich davon bin. Wenn Ihr wißt, wo sie sind, sagt es mir.«
    »Laßt mich in Ruhe. Nehmt Euch in Acht, sonst schweige ich nicht länger … Seht doch mal in der Salzkufe nach, vielleicht sind sie dort.«
    Mit brennenden Blicken starrte Misard noch immer wie blöde Jacques an. Es kam wie eine Erleuchtung über ihn.
    »In der Salzkufe, das kann sein! In der Schublade steht eine Schachtel, dort habe ich wahrhaftig noch nicht nachgesehen.«
    Er bezahlte schleunigst seinen Wein und lief zum Bahnhof, um noch den Zug um sieben Uhr zehn Minuten zu erreichen. Dort unten in dem kleinen niedrigen Häuschen sucht er vielleicht noch immer.
    Am Abend, nachdem sie gegessen hatten und auf den Zug um zwölf Uhr fünfzig Minuten warteten, wollte Philomène Jacques durch einsame Gassen auf das benachbarte Feld führen. Es war eine schwüle, heiße, dunkle Juninacht, die ihr schwere Seufzer entlockte; sie hing fast an seinem Halse. Sie hatte sich schon zweimal umgesehen, denn sie glaubte Schritte hinter sich zu hören, doch war in der Dunkelheit Niemand zu erblicken. Er litt wieder stark unter dieser Schwüle der Luft. Seit dem Morde hatte er sich eines ruhigen Gleichgewichts, einer vollkommenen Gesundheit zu erfreuen gehabt. Vorhin bei Tisch aber fühlte er jedesmal, wenn dieses Weib ihn mit ihren zitternden Händen streifte, wieder eine leise Uebelkeit. Wahrscheinlich bewirkte die durch die Schwüle der Luft verursachte Abspannung diese nervöse Störung. Jetzt, als er ihren Körper so dicht an dem seinen fühlte, machte sich diese angsterfüllte Begierde, diese dumpfe Furcht deutlicher bemerkbar. Er hatte dabei bereits die Erfahrung gemacht, daß er genesen war, denn er war ihr, um über diese Heilung Gewißheit zu erlangen, bereits ohne jede Spur von Aufregung gefällig gewesen. Seine Aufregung wurde so stark, daß er zweifellos ihren Arm hätte fahren lassen, wenn ihn nicht das sie einhüllende Dunkel andererseits beruhigt haben würde. Als sie auf einer öden Landstraße an einem bebuschten Hügel vorübergingen, zog sie ihn dorthin. Doch als sie sich lagerten,bemächtigte sich seiner wieder das fürchterliche Verlangen, er suchte im Grase nach einer Waffe, einem Stein, um ihr den Kopf zu zerschmettern. Mit einem Sprunge stand er dann auf den Füßen und entfloh wie wahnsinnig. Hinter ihm wurde in demselben Augenblick eine fürchterlich fluchende Männerstimme laut.
    »O Du Dirne, ich habe absichtlich bis jetzt gewartet, ich wollte erst Gewißheit haben!«
    »Es ist nicht wahr, lasse mich los!«
    »So, es ist nicht wahr? Er hat gut laufen, ich weiß doch, wer er ist und werde ihn mir schon kaufen! … Warte, Du Dirne, sage noch einmal, daß es nicht wahr ist!«
    Jacques floh in die Nacht hinein, nicht um Pecqueux zu entgehen, den er sofort erkannt hatte, sondern um, wahnsinnig vor Schmerz, vor sich selbst zu fliehen.
    Ein Mord hatte also richtig nicht genügt, von dem Blute Séverine’s allein war er also nicht befriedigt worden, wie er es noch an demselben Morgen geglaubt hatte. Er sollte also dasselbe Spiel nochmals beginnen. Noch eine andere und wieder eine Andere und so fort mit diesen Anderen! Also immer wieder sollte sich nach einigen Wochen der Ruhe der schreckliche Heißhunger in ihm einstellen, immer wieder verlangte ihm nach Weiberfleisch, um seine Gier zu befriedigen! Jetzt brauchte er dieses verführerische Fleisch nicht einmal mehr zu sehen, er brauchte nur etwas Warmes in seinem Arm zu fühlen, um dem verbrecherischen Triebe zu folgen, um als bestialischer Mann das Weib auszuweiden. Jetzt war alle Freude am Leben aus; vor sich sah er nur eine einzige düstere Nacht, eine grenzenlose Verzweiflung und vor dieser floh er.
    Einige Tage verstrichen. Jacques hatte seinen Dienst wieder angetreten, er ging den Kameraden aus dem Wege und verfiel wieder in seine einstige ängstliche Scheu. Nach den stürmischen Kammersitzungen war soeben der Krieg erklärt worden. Wie man sich erzählte, hatte man sich bereits ein kleineres, glücklich verlaufenes Vorpostengefecht geliefert. Seit einer Woche ließen die Truppentransporte das Personal der Eisenbahnen nicht zur Ruhe kommen. Der regelmäßige Dienst
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher