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Die Berufung

Titel: Die Berufung
Autoren: John Grisham
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er wieder ans Fenster trat.
     
    Die improvisierte Pressekonferenz fand im Erdgeschoss des Gerichtsgebäudes statt. Wes und Mary Grace stellten sich getrennt den Fragen einer kleinen Gruppe von Journalisten und beantworteten sie geduldig und mit identischen Formulierungen. Nein, der verhängte Schadenersatz sei keinesfalls ein Rekord für den Bundesstaat Mississippi. Ja, sie hielten das Urteil für gerechtfertigt. Nein, erwartet hätten sie es nicht, zumindest hätten sie nicht mit einer so hohen Summe gerechnet. Die Gegenseite werde mit Sicherheit Berufung einlegen. Wes betonte, er habe großen Respekt vor Jared Kurtin, jedoch nicht vor dem Unternehmen, das dieser vertrete. Seine Kanzlei betreue gegenwärtig dreißig andere Mandanten, die Krane Chemical verklagt hätten. Nein, sie beide rechneten nicht damit, dass es bei diesen Fällen zu einem Vergleich hinsichtlich einer Entschädigung kommen werde.
    Ja, sie seien erschöpft.
    Nach einer halben Stunde konnten sie endlich verschwinden. Hand in Hand ließen sie das Gebäude des Forrest County Circuit Court hinter sich, beide mit einer schweren Aktentasche unter dem Arm. Als sie in ihr Auto stiegen und davonfuhren, wurden sie von Reportern fotografiert.
    Zuerst sagte keiner etwas. Häuserblocks glitten vorbei, zehn Minuten verstrichen in völligem Schweigen. Ein Reifen des Wagens, eines verbeulten Ford Taurus, der zigtausend Kilometer auf dem Tacho hatte, war fast platt, und man hörte permanent das Klappern einer Ventilklappe. Sie fuhren durch die Straßen in der Nähe der Universität.
    Endlich brach Wes das Schweigen. »Wie viel ist ein Drittel von einundvierzig Millionen?«
    »Du solltest nicht mal dran denken.«
    »Tu ich nicht. War nur ein Witz.«
    »Fahr einfach.«
    »Haben wir ein bestimmtes Ziel?«
    »Nein.«
    Der Taurus kreuzte ziellos durch die Vorstädte. In ihre Kanzlei wollten sie noch nicht zurück, und sie mieden die Gegend, wo das hübsche Eigenheim stand, das ihnen einst gehört hatte.
    Als die Zahlen ihre Macht über sie verloren, kehrte allmählich ein nüchterner Blick auf die Realität zurück. Ein Prozess, einst nur nach langem Zögern angestrengt, hatte nun ein dramatisches Ende gefunden. Hinter ihnen lag ein erschöpfender Marathon, und obwohl sie vorerst den Sieg davongetragen hatten, waren ihnen die zurückliegenden Monate an die Substanz gegangen. Die Nerven lagen weiter blank, die Wunden waren noch nicht verheilt.
    Die Benzinanzeige wies darauf hin, dass der Tank nicht einmal mehr zu einem Viertel gefüllt war - was Wes noch vor zwei Jahren kaum zur Kenntnis genommen hätte. Nun nahm er es ernster. Damals hatte er einen BMW gefahren - Mary Grace einen Jaguar -, und wenn das Benzin zur Neige ging, schaute er einfach an seiner gewohnten Tankstelle vorbei und bezahlte mit Kreditkarte. Kontoauszüge oder Rechnungen sah er nie an, dafür hatte er eine Buchhalterin. Jetzt gab es weder eine Kreditkarte noch einen BMW oder Jaguar, und die besagte Buchhalterin arbeitete für den halben Lohn und hatte ein paar Dollar springen lassen, die der Kanzlei der Paytons knapp das Überleben gesichert hatten.
    Auch Mary Grace schaute auf die Benzinanzeige, was erst seit Kurzem zu einer Gewohnheit geworden war. Sie kannte und erinnerte sich an jeden Preis, wusste genau, was Benzin, Brot oder Milch kosteten. Sie war fürs Sparen zuständig, er für die Ausgaben. Noch vor einigen Jahren, als die Kanzlei sehr gut lief, war sie ein bisschen unvorsichtig gewesen und hatte ihren Erfolg genossen. Sparen oder Geldanlegen hatten seinerzeit nicht ganz oben auf der Prioritätenliste gestanden. Sie waren jung, die Kanzlei prosperierte, die Zukunft schien voller Versprechen.
    Das Geld, das sie damals in Investmentfonds angelegt hatten, war flüssig gemacht und in den Baker-Prozess gesteckt worden.
    Vor einer Stunde waren sie praktisch bankrott gewesen, erdrückt von einem Schuldenberg, gegen den ihre dürftigen Aktiva nicht ins Gewicht fielen. Jetzt hatte sich die Lage geändert. Die Verbindlichkeiten hatten sich nicht in Luft aufgelöst, aber auf der Habenseite sah es deutlich besser aus.
    Oder doch nicht?
    Wann würden sie einen Teil des Geldes oder gar die Gesamtsumme sehen, die ihnen dieses wundervolle Urteil bescherte? Würde Krane Chemical jetzt vielleicht einen Vergleich anbieten? Wie lange würde das Berufungsverfahren dauern? Wie viel Zeit konnten sie jetzt ihren anderen Mandanten widmen?
    Keiner wagte, an die Fragen zu rühren, die beide bedrängten. Sie waren
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