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Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney

Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney

Titel: Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney
Autoren: Ulrike Renk
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sich rot. Sie zog sie über das Knie, sah die Wunde und biss sich auf die Lippe. Was mache ich jetzt nur?, dachte sie verzweifelt. Ich habe das gute Kleid zerrissen, Mutter wird schimpfen. Sie presste ihr Schnupftuch auf die Wunde, band es dann um das Knie und humpelte zum Haus. Im Hof stand der Wagen, Mats spannte die Pferde ab. Ole füllte die Eimer am Brunnen.
    »Als ob ich nicht genug Eimer heute geschleppt hätte«, knurrte er mürrisch.
    Emilia öffnete die Küchentür. Auf der Bank saß Sofie und schälte mühsam Kartoffeln. Von Inken, ihrem Vater oder gar der Mutter war nichts zu sehen.
    »Emma?« Sofie sah sie erstaunt an. »Du solltest doch bei Jörgensens bleiben, was machst du denn hier?«
    »Der Johann hat gesagt, unser Haus sei verloren.« Sie wischte sich über die Nase. Immer noch liefen ihr die Tränen übers Gesicht.
    »Komm her, mein Vögelchen«, sagte die alte Magd. »Du siehst doch, dass hier alles in Ordnung ist. Nun, nun.« Tröstend nahm sie das Kind in den Arm. Emilia schmiegte sich an sie und sog ihren Duft tief ein. Sofie roch immer ein wenig nach Kamille und Pfefferminze. Sie kümmerte sich, so gut sie es noch konnte, um den Kräutergarten hinter der Küche.
    »Und …«, schluchzte Emilia nun auf, »ich habe mir das Knie aufgeschlagen und das Kleid zerrissen.«
    »Zeig mir dein Knie.« Sofie zog das Mädchen auf die Küchenbank und hob den Rock an. »Oh je. Tut es sehr weh?« Sie stand auf, nahm einen Lappen und tauchte ihn in den Krug, der neben dem Ofen stand. Sie säuberte die Wunde. Emilia zuckte zusammen, versuchte dann aber ganz stillzuhalten. Sie biss die Zähne fest zusammen und schloss die Augen. Sofie nahm ein Töpfchen mit Salbe aus ihrem Kräuterkorb. »Ringelblumen helfen beim Heilen. Und das hier hilft gegen Kummer«, sagte sie und gab Emilia zwei gezuckerte Pflaumen.
    Das Mädchen stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte, und lutschte an den kandierten Früchten, schmeckte die Süße.
    Ein lauter Schrei hallte durchs Haus, erschrocken fuhr Emilia auf. »Mutter …«
    »Ja«, murmelte Sofie. »Es zieht sich.« Nachdenklich schaute sie auf das kleine Mädchen. »Vielleicht solltest du wieder zu Jörgensens gehen.«
    »Wo ist Inken?«
    »Oben. Sie richtet die Zimmer.«
    »Welche Zimmer?«
    Sofie seufzte. »Deine Tante wird gleich kommen. Dein Vater macht sich frisch und wird etwas essen, dann fährt er zurück in die Stadt zu deinem Onkel.«
    »Tante Minna? Was will sie denn hier?« Emilia runzelte die Stirn. Sie mochte ihre Tante, auch wenn sie seit letztem Jahr immer so traurig war und oft weinte.
    »Irgendwo müssen sie ja wohnen«, murmelte Sofie.
    Wieder schrie die Mutter auf.
    Emilia zuckte zusammen und straffte die Schultern. Sie stand auf und humpelte in die Diele, schlich sich die Treppe hoch.
    Die Schreie kamen aus dem Schlafzimmer der Eltern, welches sich im linken Flügel befand. Emilias Zimmer war auf der rechten Seite des Hauses.
    Sie schlüpfte in ihre Kammer und setzte sich seufzend auf das Bett. Sie war nicht brav genug gewesen, sonst würde ihre Mutter nicht solche Schmerzen erleiden müssen. Besorgt sah Emilia an sich herab, hob das Kleid an und untersuchte den Riss. Zu ihrem sechsten Geburtstag hatte die Mutter ihr ein Nähkästchen geschenkt. Sie hatte schon gelernt, ein Taschentuch zu säumen, auch wenn der Saum noch nicht gerade war.
    Sie nahm das Kästchen, Nadel und Faden. Angestrengt versuchte sie, den Faden durch das Nadelöhr zu ziehen. Vor lauter Anstrengung streckte sie die Zungenspitze heraus. Endlich hatte sie es geschafft. Nun nahm sie den Rock hoch und inspizierte wiederum den Riss. Allein ausziehen konnte sie das Kleid nicht, die Schleifen und Schließen waren hinten, sie hatte es vergeblich versucht. Es musste also so gehen. Sie drehte den Rock auf links, so weit es ging, und legte die beiden Hälften aufeinander. Ob es funktionieren würde, wenn sie das einfach so zusammennähte? Es musste. Immer wieder drückte sie die Nadel durch den festen Stoff, er war viel dicker als der des Schnupftuchs, das sie gesäumt hatte. Es war mühsam, und diesmal mischten sich Tränen mit Schweiß. Ihr Zeigefinger blutete, weil sie den kleinen Fingerhut nicht gefunden hatte. Es muss gehen, dachte sie wieder und wieder. Ich muss alles richtig machen, ich muss brav sein und darfMutter keinen Kummer bereiten. Die Schreie, die ab und an durch das Haus hallten, verdrängte sie, so gut sie konnte.
    Schließlich verknotete sie den Faden, riss ihn ab und drehte
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