Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten
Autoren: A. J. Kazinski
Vom Netzwerk:
unten auf dem Platz blickten nach oben. Ling versuchte, ihnen ein Zeichen zu geben. Er sah, dass ihre Münder sich bewegten, hörte aber nichts.
    Dann spürte und schmeckte Ling plötzlich das Blut, das aus seiner Nase lief.
    »Mein guter Gott«, stöhnte er. »Was geschieht mit mir?«
    Für einen Moment hatte er das Gefühl, weggewischt zu werden. Als würde er reduziert zu einem Puzzlesteinchen im Traum eines anderen Menschen, der jetzt, in diesem Augenblick erwachte. Er konnte sich dagegen nicht zur Wehr setzen. Die Geräusche um ihn herum waren verstummt. Er stürzte. Landete auf dem Rücken und blickte nach oben. Um ihn herum war es vollkommen still. Er lächelte und streckte einen Arm aus. Dort, wo noch vor einem Augenblick die Zimmerdecke gewesen war, hatte er nun freien Blick in einen Himmel, an dem die ersten, noch schwachen Sterne sichtbar wurden.
    »Es ist so still«, murmelte er. »Die Venus. Und die Milchstraße.«
    ***
    Die anderen Mönche stürmten in sein Zimmer und beugten sich über ihn. Aber Ling sah sie nicht. Seine ausgestreckte Hand fiel kraftlos zu Boden. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen.
    »Er hat versucht anzurufen.« Einer der Mönche hielt den Hörer in der Hand. »Die Rettungszentrale.«
    »Ling!« Der jüngste der anderen Mönche versuchte ihn anzusprechen. »Ling! Kannst du mich hören?«
    Keine Antwort. Der junge Mönch sah zu den anderen auf. »Er ist tot.«
    Alle schwiegen mit gesenktem Kopf. Einige hatten Tränen in den Augen. Dann brach der älteste Mönch das Schweigen: »Hol den Lopön, uns bleibt nicht viel Zeit.«
    Jemand wollte den Jungen schicken, aber der ältere hielt ihn auf. »Nein, hol du ihn. Der Junge hat so etwas noch nie erlebt. Er soll hierbleiben.«
    Als ein anderer Mönch sich auf den Weg machte, sah der Junge den älteren an.
    »Was passiert jetzt?«, fragte er ängstlich.
    »Phowa. Wir müssen das Bewusstsein übertragen. Gleich kommt der Lopön.«
    »Phowa?«
    »Phowa hilft dem Bewusstsein auf den Weg. Durch den Körper und dann durch den Kopf nach draußen. Wir haben nur ein paar Minuten.«
    »Was passiert, wenn wir es nicht schaffen?«
    »Wir schaffen es. Der Lopön ist schnell. Kommt, helft mir. Er kann da nicht liegen bleiben.«
    Niemand reagierte.
    »Packt an.« Der Junge und zwei andere Mönche nahmen Lings Beine.
    Sie hoben ihn hoch und legten ihn seitlich aufs Bett. Als der älteste ihn auf den Rücken legen wollte, erblickte er etwas.
    »Was ist das?«, fragte er.
    Die anderen kamen näher.
    »Seht doch, da, auf seinem Rücken.«
    Alle beugten sich über den toten Mönch.
    »Was ist das?«, fragte der Junge.
    Keiner antwortete ihm. Sie standen nur schweigend da und starrten auf das seltsame Zeichen, das auf Lings Rücken zum Vorschein gekommen war. Es reichte von Schulter zu Schulter und herab bis zur Mitte des Rückens. Wie eine Tätowierung oder ein Brandzeichen.
    Als hätte ein Feuer auf seinem Rücken gebrannt.

2.
    2.
    Suvarna Hospital, Mumbai – Indien
    Giuseppe Locatelli hatte die Mail mit der seltsamen Bitte vor drei Tagen erhalten. Er sollte die Leiche eines kürzlich verstorbenen indischen Wirtschaftswissenschaftlers in Augenschein nehmen. Giuseppe hatte nicht wirklich Lust dazu, aber er brannte darauf, Indien zu verlassen, und hoffte, dass ein pflichtbewusster, erfolgreicher Einsatz ein Sprungbrett für eine bessere Stellung in einer anderen italienischen Botschaft sein konnte. Vielleicht in den USA. Davon träumte er. Washington oder das Konsulat in New York, in dem man sich mit allem beschäftigte, was mit den Vereinten Nationen zu tun hatte. Aber im Grunde war ihm alles lieber als diese stinkenden Straßen. Deshalb hatte er nicht gezögert, dieser seltsamen Bitte nachzukommen.
    Die Fahrt war lang und beschwerlich. Trotz des frühen Morgens kam das Taxi in dem Gewimmel des Elendsviertels nur langsam voran. Guiseppe hatte bereits während seiner ersten Woche in Indien gelernt, dass man die Armen nicht ansehen durfte. Man durfte ihnen nicht in die Augen blicken – sonst hatte man wie jeder Neuankömmling eine Traube bettelnder Kinder im Schlepptau. Richtete man seinen Blick stattdessen stur geradeaus und blieb eiskalt, ließen sie einen in Ruhe. War man in Indien unterwegs, kam es darauf an, die Armut zu verdrängen, weinen durfte man erst, wenn man wieder allein war. Sonst wurde man bei lebendigem Leib gehäutet.
    Das Taxi hielt an.
    »Suvarna Hospital, Sir.«
    Giuseppe bezahlte und stieg aus dem Wagen. Vor dem Krankenhaus hatte sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher