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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten
Autoren: A. J. Kazinski
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eine Warteschlange gebildet. In diesem Land wartete man wirklich überall. Am Strand, bei der Polizei, vor jeder noch so kleinen Praxis, auch wenn es dort nur Pflaster und Mullbinden gab. Giuseppe schob sich durch die Wartenden, ohne einem einzigen in die Augen zu blicken.
    Er sprach den Pförtner auf Englisch an. »Giuseppe Locatelli. Italienische Botschaft. Ich habe einen Termin mit Dr. Kahey.«
    Dr. Kahey ließ sich den Arbeitsdruck nicht anmerken. Er machte einen ruhigen, gefassten Eindruck, während er über Italien sprach, über Sardinien, wo Giuseppe selbst noch nie gewesen war. Sie gingen über die Treppe nach unten zur Leichenhalle. Giuseppe kam nicht umhin, dem Arzt seine Bewunderung auszudrücken.
    »All die Menschen da draußen, wie schaffen Sie das nur?«
    »Die sind nicht da, um behandelt zu werden.« Dr. Kahey lächelte etwas amüsiert. »Immer mit der Ruhe.«
    »Und warum dann?«
    »Sie wollen ihm die letzte Ehre erweisen.«
    »Ihm?«
    Dr. Kahey sah Giuseppe Locatelli verwundert an. »Dem Mann, den auch Sie sehen wollen. Raj Bairoliya. Sind Ihnen etwa nicht die vielen Blumen aufgefallen?«
    Giuseppe wurde rot. Ihm war gar nichts aufgefallen. Er hatte aus Furcht vor dem Augenkontakt mit einem Bettler starr nach vorne geschaut. Kahey sprach mit seinem charakteristischen, indischen Akzent weiter: »Bairoliya war einer der engsten Berater von Muhammad Yunus, dem Vater der Mikrokredite. Kennen Sie Mr Yunus?«
    Giuseppe schüttelte den Kopf. Er hatte aber von den Mikrokrediten gehört, dank derer Tausende und Abertausende von Menschen kleine Geschäfte hatten aufbauen können.
    »Yunus ist 2006 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden«, sagte Dr. Kahey und zog die Leiche des Wirtschaftswissenschaftlers aus der Kühlung. »Man hätte diesen Preis aber ebenso gut auch Bairoliya geben können.«
    Giuseppe nickte. Der Arzt nahm das Leichentuch zur Seite. Der Wissenschaftler sah friedlich aus. Seine Haut war aschgrau. Giuseppe räusperte sich und erklärte, dass er jetzt die italienischen Polizeibehörden unterrichten müsse, die ihn geschickt hatten.
    »Sure, sure.«
    Er wählte die Nummer. Der Hörer wurde sofort abgenommen.
    »Tommaso di Barbara?«
    »Si.«
    »Giuseppe Locatelli. Chiamo dall’ambasciata a Nuova Delhi.«
    »Si. Si!«
    »Wie Sie mich gebeten hatten, stehe ich nun neben dem Leichnam von Raj Bairoliya.«
    Die Stimme am Telefon klang erkältet und aufgeregt: »Sein Rücken. Können Sie seinen Rücken sehen?«
    Giuseppe wandte sich an den Arzt, der beiseite getreten war, um eine Zigarette zu rauchen.
    »Die italienischen Behörden fragen nach dem Rücken.«
    »Ah, Sie wollen das Mal sehen.« Kahey zuckte mit den Schultern und legte die Zigarette so auf die Fensterbank, dass die Glut über den Rand ragte. »Vielleicht können die mir ja sagen, was das ist.« Er sah Giuseppe auffordernd an. »Sie werden mir helfen müssen.«
    Giuseppe umklammerte unbeholfen den Hörer und wusste nicht, was er tun sollte.
    »Wir müssen ihn umdrehen.«
    »Rufen Sie zurück«, lautete die Order auf Italienisch, dann war die Leitung unterbrochen.
    »Come on. Don’t be afraid. He won’t hurt anyone. On three! Ready?«
    Dr. Kahey lächelte, als Giuseppe zufasste. »One, two, three!«
    Die Leiche klatschte auf die Seite, und ihr Arm rutschte über die Kante. Giuseppe Locatelli starrte verwundert auf den Rücken des Toten. Ein Mal erstreckte sich von Schulter zu Schulter.
    »What is it?«

3.
    3.
    Polizia di Stato, Venedig – Italien
    Tommaso di Barbara wartete schon den ganzen Tag auf den Anruf. Wieder und wieder hatte er das Telefon angestarrt, während die Grippe immer mehr von ihm Besitz ergriff. Und jetzt kam er im denkbar unpassendsten Moment. Tommaso hielt den Blick auf den Hörer gerichtet, als sein Chef ihn vorwurfsvoll ansah.
    »Wissen Sie vielleicht etwas über dieses Päckchen?«, fragte er inquisitorisch. »Es kam mit der Diplomatenpost aus China und soll hier aus diesem Präsidium angefordert worden sein?«
    Tommaso schwieg. Er fragte sich, was sein Chef, Commissario Morante, um diese Uhrzeit im Präsidium verloren hatte. Sonst tauchte er immer nur auf, wenn sich prominenter Besuch angekündigt hatte. Tommaso war nicht wohl in seiner Haut. Er hatte das Gefühl, dass seine Tage im Präsidium gezählt waren.
    Sein Chef ließ nicht locker. »Wissen Sie wirklich nichts davon? Jemand hat die chinesischen Behörden über die offiziellen Kanäle aufgefordert, uns dieses Band zu schicken. Via Interpol. Ohne mich
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