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Die Apothekerin

Die Apothekerin

Titel: Die Apothekerin
Autoren: Ingrid Noll
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Schildpatt und Perlmutt. Ich erinnere mich an Drachen- und Löwenköpfe, die mich als Kind grausig anzogen, an einen Stockdegen und einen Schwertstock. Mein Vater hat alles verkauft.
    Ich nahm die schönen braunen Glasflaschen mit den handgeschriebenen Etiketten aus dem Hutfach meines Kleiderschrankes.
    »Schenk mir eine«, bettelte er, »ich will mein Rasierwasser hineinfüllen.«
Selbstverständlich wählte er mein liebstes Fläschchen aus, das kleinste und feinste. Auf dem verblichenen Etikett war in violetter Tinte POISON vermerkt. Levins Interesse war geweckt. Mit Kraft zog er den geschliffenen Stöpsel heraus und schüttete den Inhalt auf ein seidenes Sofakissen. Winzige Röhrchen mit dem Durchmesser eines dicken Nagels und einer Länge von zwei bis vier Zentimetern fielen heraus. Levin las laut: »Apomorphine Hydrochlor., Special Formula No. 5557, Physostigmine Salicyl. gr. 1/600, Poisons List Great Britain, Schedule I« und so weiter. Er sah mich neugierig an. »Gift?«
»Klar«, sagte ich, »für einen Apotheker nichts Besonderes.«
Levin öffnete behutsam eines dieser Puppenröhrchen, zog die Watte heraus und entnahm eine Tablette. Auch ich mußte über ihre Winzigkeit staunen, sie war kleiner als meine Pupille.
Für ihn sei es interessant, sagte Levin, daß in totalitären Staaten hohe Politiker oder Geheimnisträger eine Giftkapsel im hohlen Zahn versteckten, um sich notfalls durch Selbstmord einer Folterung zu entziehen. »Aber ich wußte nicht, wie niedlich das Gift aussieht…«
Ich nahm ihm die Röhrchen weg, spülte das Flakon mit kochender Seifenlauge aus und überreichte es ihm.
Später machte ich mir Vorwürfe, daß ich derart gefährliches Material jahrelang in meinem Kleiderschrank gelagert hatte. So mancher Selbstmordkandidat hatte schon bei mir genächtigt; gut, daß diese Zeiten vorbei waren. Ich suchte nach einem neuen Versteck für mein Gift, leerte den Lavendel aus einem Duftsäckchen in den Mülleimer, schob statt dessen die Röhrchen hinein und befestigte den kleinen Beutel mit einer Sicherheitsnadel an der Innenseite eines langen Wollrocks, den ich selten trug.
    Meine Studienfreundin Dorit wird durch zwei kleine Kinder ziemlich beansprucht. Leider sehen wir uns nur selten, wenn sie wieder einmal Valium braucht. Sie nimmt dann die Gelegenheit wahr, mit mir Tacheles zu reden. Wir saßen im Cafe Schafheutle, als ich wieder zu hören bekam: Ich solle mich nicht in Arbeit vergraben, sonst werde ich es nie zu einem Mann und einer Familie bringen.
    »Hör zu, Dorit, ich komme jetzt schon kaum noch zu meiner
    Arbeit; ich habe einen neuen Freund…«
»Ehrlich? Hoffentlich nicht schon wieder eine Niete!« Ich
versprach, ihn ihr vorzustellen.
    Levin war siebenundzwanzig, wirkte aber leider viel jünger. Er hatte noch die schlaksige Figur eines Abiturienten, den Appetit eines Vierzehnjährigen und die Begeisterungsfähigkeit eines ABC-Schützen. Er sah gut aus, fand ich, aber auch nicht so extrem, daß sich alle Frauen auf ihn stürzten, denn sein rosiges Kindergesicht, für das die Nase zu groß wirkte, war ein wenig schief. Zu seinen jugendlichen Eigenschaften paßte nicht unbedingt sein pflichtbewußtes Lernen, sein Ehrgeiz, bald das Studium abzuschließen.
    Wie zu erwarten, war Dorit unzufrieden.
»Eine gewisse Verbesserung muß ich anerkennend bestätigen«, sagte sie, »aber heiraten wird er dich nicht, das mußt du bei deiner Lebenserfahrung doch selbst wissen.«
»Und warum nicht?«
»Ach Gott, das kennen wir doch: Er sucht eine Mutti, die ihm Hustenbonbons aus der Apotheke mitbringt und ihm ihr Auto borgt. Irgendwann, wenn du müde von der Arbeit nach Hause fährst, siehst du ihn mit einer Zwanzigjährigen händchenhaltend am Neckar sitzen.«
Dorit meinte es gut, sie hatte nicht ganz unrecht, und auch ich hatte gelegentlich solche Schreckensvisionen. Aber wer kann aus bloßen Verstandesgründen einen geliebten Mann vor die Tür setzen? Außerdem war unser Altersunterschied nicht übermäßig, was sind heutzutage schon acht Jahre, wo viele Frauen zwanzig Jahre jüngere Männer heiraten. Auf jeden Fall sah ich jünger aus, als ich den Jahren nach war. Dorit behauptete sogar, daß ich zu jenen blonden Frauen gehöre, die mit fünfundfünfzig noch aussehen wie mit fünfundzwanzig, eine Prophezeiung, die sich allerdings erst bestätigen muß. (Wie gut, daß ich seit zwei Jahren Kontaktlinsen trug und Levin mich nie mit meiner großen Brille gesehen hatte.) Außerdem gab es natürlich auch noch
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